Ukraine: Kampf gegen Korruption? Demokratie? Rechtsstaat? Drei berechtigte Fragezeichen!

2
Ukraine Foto:Pixabay

Für fast alle deutschen Medien ist es sonnenklar: die Ukraine kämpft für „unsere westlichen Werte“, oder noch deutlicher: Die Ukraine kämpft für uns! Die genannten Werte umfassen vor allem Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine staatliche Ordnung, die nicht systematisch durch Korruption unterhöhlt ist. Schauen wir uns also die Realität des ukrainischen Staates an. Der Fairness halber soll dabei berücksichtigt werden, dass die besagten Werte es in Kriegszeiten immer besonders schwer haben; deshalb muss auch der Zustand vor Beginn des Krieges in die Betrachtung einbezogen werden.

Der Europäische Rechnungshof beklagt weitverbreitete Korruption und Vereinnahmung des Staates durch Oligarchen (September 2021)

Fünf Monate vor Beginn des Krieges gab der Europäische Rechnungshof einen Bericht zur „Bekämpfung der Großkorruption in der Ukraine“ heraus, im September 2021. Hintergrund für den Bericht ist die Tatsache, dass die EU der größte Geldgeber für die Ukraine war und ist, allein von 2014 bis 2021 hat sie 12,2 Milliarden bereitgestellt, wovon ein Drittel in Form von Darlehen gegeben wurde. Dem Rechnungshof kam nun die Aufgabe zu, die Verwendung der Mittel zu prüfen.

Seine Ergebnisse sind so ernüchternd wie alarmierend: Von 2016 bis 2020 haben sich die „weitverbreitete Korruption, mangelndes Vertrauen in die Justiz sowie … Vereinnahmung des Staates durch Oligarchen“ nicht geändert. Sie stellten „ein erhebliches Hindernis für die Entwicklung der Ukraine dar“. Transparency International definiere „Großkorruption“ als Machtmissbrauch auf hoher Ebene, durch den sich einige wenige Personen auf Kosten der Allgemeinheit einen Vorteil verschaffen und dadurch einzelnen anderen Personen, vor allem aber der Gesellschaft schweren und weitreichenden Schaden zufügen. Der Bericht:

„In der Ukraine beruht dies auf informellen Verbindungen zwischen Regierungsbeamten, Parlamentsmitgliedern, Staatsanwälten, Richtern, Strafverfolgungsbehörden (LEA), Geschäftsführern von staatseigenen Unternehmen und politisch vernetzten Einzelpersonen /Unternehmen. Auf zentraler Ebene gibt es rund 3500 staatseigene Unternehmen und 11 000 auf kommunaler Ebene.“

Zwar habe die EU sich bemüht, der Korruption entgegenzuwirken, die Großkorruption sei aber nach wie vor ein „zentrales Problem“ in der Ukraine. Und weiter: „Die Justizreform erleidet derzeit Rückschläge, die Korruptionsbekämpfungseinrichtungen sind gefährdet und das Vertrauen in derartige Stellen ist nach wie vor gering.“ Die Großkorruption „schadet dem demokratischen Prozess und bildet die Grundlage für weitverbreitete Kleinkorruption“.

Die Süddeutsche Zeitung wurde in einem Artikel vom 23. September 2021 noch deutlicher: Die Erkenntnisse zum Thema Rechtsstaat seien besonders deprimierend: „Nach über zweieinhalb Jahrzehnten Reformversuchen ist die Justiz immer noch durchgehend korrupt.“ Noch immer teilten „Oligarchen, hohe Staatsdiener und korrupte Staatsanwälte und Richter den Staat unter sich auf, verschwinden Milliarden ins Ausland“.

Die EU bemühe sich zwar, aber: „Aus den Erkenntnissen der EU folgte in der Regel: nichts.“

Politisches System in der Ukraine bis zu den Wahlen 2019: 70 Prozent der Ukrainer gaben an, ihr Land gehe in die falsche Richtung

Der Wissenschaftler Christian Wipperfürth untersuchte 2019 die wirtschaftliche Lage und die Entwicklung des politischen Systems in der Ukraine (Telepolis, 26. März 2019). Das Fazit seiner Untersuchung: „Die Ukraine bleibt jedoch ein schlecht regiertes Land mit großen sozialen Ungleichgewichten, mangelnder Rechtsstaatlichkeit und grassierender Korruption, die über das in Russland übliche Niveau noch hinausging.“ 2014 habe es die Hoffnung von Millionen Ukrainern auf einen wirklichen positiven Umbruch gegeben, aber: „Das Zeitfenster, in dem wirkliche Reformen möglich gewesen wären, hat sich vermutlich geschlossen.“

Die Stimmung im Lande sei denkbar schlecht. Das US-amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup habe festgestellt, dass nur 9 Prozent der Ukrainer der Regierung ihres Landes vertrauten, der niedrigste Wert weltweit.

Zwar sei die ukrainische Führung durch Wahlen legitimiert, allerdings sei spätestens seit 2015 die Ablehnung des Präsidenten und der Regierung weltweit einzigartig.

Nur 12 Prozent erwarteten ehrliche Wahlen.Die Ukraine sei der einzige Nachfolgestaat der Sowjetunion, der ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen zu verzeichnen hatte als 1991. Jährlich verlasse etwa eine Million Ukrainer das Land, so dass die Überweisungen der Emigrierten 2018 etwa 10 % des ukrainischen Bruttosozialproduktes ausmachten. In keinem europäischen Land seien die Löhne niedriger als in der Ukraine.

Immerhin wollte Wipperfürth nicht ausschließen, dass die Wahlen eines neuen Präsidenten im März 2019 etwas zum Positiven verändern könnten. Und bekanntlich gewann Selensky diese Wahlen, seine Partei „Diener des Volkes“ gewann die absolute Mehrheit in den nachfolgenden Parlamentswahlen, so dass sie über eine starke Mehrheit verfügten.

Februar 2022: „Immer lauter wird die Kritik, Selensky arbeite an einer autoritären Machtvertikale“

Hat Präsident Selensky nun diese Machtposition genutzt, um den westlichen Werten mehr Geltung zu verschaffen? Die Stiftung Wissenschaft und Politik hat diese Frage für den Zeitraum bis zum Kriegsbeginn untersucht. In SWP-Aktuell vom 4. Februar 2022 wird festgestellt, dass sich das Bild zweieinhalb Jahre nach Selenskys Wahl „stark gewandelt“ habe: „Vor allem ab Februar 2021 irritierte der Präsident viele Beobachter, indem er andere Verfassungsorgane und auch den Vorrang des Rechts bei wichtigen Entscheidungen ignorierte.“

Selensky habe seine Präsidialverwaltung zum Entscheidungszentrum gemacht, was auf Kosten der Regierung und vor allem des gewählten Parlaments ging. Dabei spielte der Sicherheitsrat eine besondere Rolle, der dem Präsidenten untersteht und nicht gewählt ist.

Dieser Sicherheitsrat stoppte zum Beispiel im Februar 2021 den Sendebetrieb der Fernsehkanäle ZIK, Newsone und 112, die im Bereich der Nachrichtensender führend waren. Sie standen der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ nahe. Diese Partei hatte immerhin 44 Abgeordnete im Parlament. Vor allem aber lag damals sie mit 22 Prozent in Umfragen gleichauf mit Selenskys Partei. Der Sicherheitsrat nannte das Verbot „Sanktionen“ und behauptete, die Sender seien Instrumente der Kreml-Propaganda geworden (FAZ, 27.2.2021). Die SWP-Studie drückt es vornehm aus: Selensky habe den Rechtsvorrang negiert, mit anderen Worten: er hat das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt und die Justiz ausgehebelt.

Insgesamt stellt die Studie fest, Selenskys Politik lasse ihn und sein Team in der Präsidialadministration „immer isolierter wirken“; mit seiner Politik gehe eine „tatsächliche Gefahr für die weitere Demokratisierung“ einher. Es deute sich an, dass die Justiz als Instrument gegen politische Kontrahenten eingesetzt werden könnte. Und schließlich:

„Unter den westlichen Partnern gibt die Ukraine derzeit kein gutes Bild ab.“ Um es noch einmal zu wiederholen: Dieser Befund stammt aus der Zeit vor dem Krieg!

Ausbau zum autoritären Staat: Parteiverbote, Sprachengesetz, Medien- gesetz, religiöse Intoleranz

Im Schatten des Krieges wird nun der Weg in die schon eingeschlagene Richtung fortgesetzt. Im Frühjahr 2022 werden elf politische Parteien verboten, darunter die oben genannte größte Oppositionspartei „Oppositionsplattform“.

Am 29. Dezember 2022 unterzeichnet Selensky ein neues Mediengesetz. Ein Nationaler Rat für Fernsehen und Rundfunk erhält ausgeweitete Kompetenzen und bekommt zusätzlich die Aufsicht über sämtliche Print- und Onlinemedien übertragen. Dieser Nationale Rat wird zwar als unabhängige Einrichtung dargestellt, die Hälfte seiner Mitglieder wird allerdings vom Präsidenten ernannt, die andere Hälfte vom Parlament, in dem der Präsident aktuell die Mehrheit hat. Der Rat kann Medien verwarnen, Strafen gegen sie verhängen und sie sogar schließen. Der Generalsekretär des Europäischen Journalistenverbandes urteilt, das Gesetz werfe „den Schatten eines Diktators“ auf Selensky. Übrigens hatte Selensky dies Gesetz bereits vor drei Jahren ins Parlament eingebracht, wo es aber als „zu extrem“ zurückgewiesen wurde.

Jüngst ist das neue Sprachengesetz in Kraft getreten. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften müssen nun auf ukrainisch erscheinen. Russische Ausgaben sind zwar nicht verboten, doch parallel zu ihnen muss eine ukrainische Version in gleicher Auflage gedruckt werden. Die betreffenden Verlage werden so in den Ruin getrieben. Das Gesetz richtet sich offenbar gegen das Russische, das von mindestens 30 Prozent der Bevölkerung gesprochen wird.

Die Sprachen anderer Volksgruppen wie Ungarn oder Polen wie auch die Sprachen der EU und Großbritanniens sind von diesem Gesetz ausgenommen. Buchläden müssen mindestens 50 Prozent ihrer Bestände auf ukrainisch anbieten. Russisch sprechende Redner müssen bei Vorträgen, Shows, Konzertabenden immer auch ins Ukrainische übersetzt werden. Die FAZ stellt fest: „Leidtragende sind russischsprachige ukrainische Schriftsteller und Wissenschaftler, deren Tätigkeitsfeld stark eingeschränkt wird.“ (FAZ, 17. Januar 2023)

Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass auch die „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ verboten werden soll, obwohl sie sich vom russischen Angriffskrieg distanziert hat. Der Münsteraner Theologe Thomas Bremer fordert eine dringende Korrektur dieser Religionspolitik der ukrainischen Regierung und spricht von Millionen Gläubigen, „die mitten im Krieg als russische Agenten stigmatisiert werden“. (FAZ.net 7. Januar 2023)

Fazit

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Ukraine hat selbstverständlich das Recht, sich gegen den russischen Angriff zu verteidigen, ganz unabhängig von ihrer inneren Verfassung. Das gilt für sie ebenso wie es für die Afghanen galt, die sich gegen die Sowjetunion verteidigt haben, oder die Vietnamesen, die gegen die USA gekämpft haben.

Nur: die Behauptung, die ukrainische Regierung kämpfe dabei für Demokratie und Rechtsstaat, lässt sich offenbar nicht aufrechterhalten, und dies offenbar nicht erst seit dem Kriegsbeginn im vergangenen Februar. Auch die zweite oft zu hörende Behauptung, Russland kämpfe gegen die Ukraine, weil diese den russischen Staatsbürgern eine strahlende Alternative zu ihrer autoritären Ordnung vorlebten, wirkt ziemlich fehl am Platze.

Und noch eins: die beschriebenen Entwicklungen sind zumindest den intelligenten Vertretern unserer Medien natürlich auch bekannt. Aber offenbar haben sie sich entschieden, nicht oder nur am Rande darüber zu berichten und es schon gar nicht zu kritisieren (wenige Ausnahmen bestätigen die Regel). Damit lassen sie die Propaganda vom Kampf um westliche Werte wider besseres Wissen blühen und verfehlen ihre Aufgabe, wie sie etwa Hanns Joachim Friedrichs beschrieben hat:

Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken… Nur so schaffst Du es, dass die Zuschauer Dir vertrauen.“ (Interview mit dem Spiegel 13/1995)

2 Kommentare

  1. Zitat (Prognose vom Sommer 2022):
    Bis auf die Republik Moldau schufen alle Nachbarstaaten deutlich bessere Lebensbedingungen für ihre Bevölkerung. Das manifestiert sich vor allem in einer deutlich höheren Lebenserwartung. Seit Mitte der 1970er-Jahre stagniert diese in der Ukraine zwischen 72 und 67 Jahren. Gegenwärtig liegt nur noch Russland auf demselben Niveau. …
    Auch in anderen Bereichen, wie der Verbreitung von Waffen in der Bevölkerung, politischem Extremismus bzw. Terrorismus sowie Gewaltverbrechen und Morde „erreicht“ die Ukraine negative Spitzenwerte. In Europa geht es nur der russischen Bevölkerung ähnlich. …
    Die Militärausgaben entsprachen drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. … Die Ukraine hat sich offenbar systematisch auf einen größeren Krieg vorbereitet. Ohne die monetäre Unterstützung von Wirtschaft und Militär durch den Westen, wäre die (zivile) Wirtschaft längst zusammengebrochen. …
    Für die Ukraine gibt es jedoch keine Siegesoption im Sinne einer zukünftigen Wohlstandsentwicklung. Bereits jetzt hat sie fast alle Entwicklungspotentiale verloren. …
    Bereits vor dem Krieg war ein zeitnaher EU-Beitritt eine lächerliche Illusion. Nehmen die EU-Staaten mit ihrem Veto-Recht die Beitritts-Kriterien Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftliche Entwicklung sowie wirtschaftlicher Produktivität ernst, hat die Ukraine in den nächsten Jahrzehnten keine Chance auf Mitgliedschaft.
    Setzen die gefährlichen Großmacht-Illusionisten trotzdem eine Aufnahme durch, ist es wohl das Ende einer vertieften EU-Integration. Möglicherweise droht dann sogar der Zerfall. Es wäre nicht das erste Imperium, das an „strategischer Überdehnung“ zugrunde geht.

    https://www.telepolis.de/features/Die-Ukraine-das-hochgeruestete-Armenhaus-Europas-7147424.html

    Ich vermute, in den BND-Analysen fuer Scholz steht praktisch dasselbe. Der Autor beruft sich auf oeffentliche Statistiken.

  2. Kurze Ergänzung

    In der Sendung „Maischberger“ vom 8. Februar nahm der ehemalige Innenminister Gerhart Baum dazu Stellung wie folgt (ab Minute 37:00):

    „Die Ukrainer kämpfen um den Erhalt ihres Staates und um den Erhalt ihrer
    Demokratie. Das ist keine korrupte Gesellschaft. Ich war oft genug da!“

    Den Hinweis von Frau Wagenknecht auf den Bericht des Europäischen Rechnungshofes wischte er mit einer abwertenden Bemerkung beiseite.

    Wahrscheinlich kennt er ihn nicht, hat ihn also gar nicht gelesen. Vielleicht will er ihn aber auch gar nicht kennenlernen, weil er dann völlig umdenken müsste. Und das fällt nicht nur ihm schwer. Dass er allerdings meint, durch ein paar Kurzbesuche in der Ukraine feststellen zu können, dass es dort keine Korruption gebe, ist eines Politikers, der ernst genommen werden will, unwürdig.

Möchten Sie den Artikel kommentieren

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.