Mitten im Kriegsgebiet an der Frontlinie liegt das Atomkraftwerk Saporischschia. Es ist das größte in Europa. Es wird immer wieder beschossen, die kürzlich erfolgte Sprengung des Staudamms weiter flussabwärts könnte nun die lebenswichtige Kühlung des AKW gefährden.
Käme es zu einer Kernschmelze wie 1986 in Tschernobyl, würde ein großes Gebiet in der Ukraine verstrahlt, und je nach Windrichtung würden auch die Menschen in ost- wie mitteleuropäischen Staaten wie etwa Deutschland von radioaktiven Wolken bedroht.
Angesichts dieser Gefahr wirken unsere Regierung, ein Großteil unserer Medien, aber auch Gruppen der Anti-AKW-Bewegung merkwürdig ruhig. Und selbst wenn über die drohende Gefahr berichtet wird, gibt es keine öffentliche Diskussion darüber, was – auch von unserer Regierung – getan werden kann, um die Gefahr abzuwenden oder wenigstens zu minimieren. Man wartet ab und schweigt.
Das größte Atomkraftwerk in Europa – größer als Tschernobyl!
Warum ist das so? Fühlt man sich sicher, weil das AKW Saporischschia „weit weg“ sei, so dass „uns“ nichts passieren könne? Nun stimmt es zwar, dass die Entfernung von Berlin bis zu diesem AKW etwa 1600 km beträgt, also 450 Km mehr als zum AKW Tschernobyl. Allerdings war die Leistung des AKW etwa 60 % größer als die von Tschernobyl, also kann hier auch noch deutlich mehr Radioaktivität austreten. Man sollte auch nicht vergessen, dass 1986 in Tschernobyl nur einer von vier Blöcken betroffen war und dass wir uns weder die Windstärke noch dessen Richtung aussuchen können. Die betroffenen Ukrainer könnten nur noch versuchen, so weit wie möglich zu fliehen, aber viele von ihnen wären auch dann noch radioaktiver Strahlung ausgesetzt.
Die ukrainische Regierung sagt, die Russen beschössen das AKW, die russische Regierung beschuldigt die ukrainischen Truppen. Allerdings ist es eine Tatsache, dass russische Truppen die Kleinstadt Enerhodar wie das AKW schon im März 2022 eingenommen haben. Das Werk steht also seit über einem Jahr unter ihrer Kontrolle. Dass sie sich selbst beschießen, glaubt niemand, der auch nur kurz ein bisschen nachdenkt. Es spricht also alles dafür, dass das Risiko von ukrainischen Truppen ausgeht. Aus deren Sicht ist die Kontrolle der russischen Armee über das Gebiet schmerzlich, nicht zuletzt, weil der riesige Stausee an dieser Stelle seine schmalste Stelle hat: nur etwa 5 Kilometer, am Nordufer stehen ukrainische Truppen, am Südufer russische. Wenn die ukrainischen Truppen nach Süden in Richtung Melitopol und dann auf die Krim vorstoßen wollen, wäre bei einer Länge des Stausees von 230 km hier eine günstige Stelle für den Angriff einer Heeresgruppe, die bei Erfolg einen Brückenkopf bilden und sich dann mit weiter südlich und weiter nördlich vorstoßenden Truppen vereinigen könnte. Das erklärt unter anderem, warum die ukrainischen Truppen seit einem Dreivierteljahr um das Gebiet kämpfen. Mit dem hohen Risiko, dass es zum AKW-Gau (größter anzunehmender Unfall) kommt.
Die „Times“ berichtet über ukrainischen Angriff auf Territorium des AKW
Oder sitzt der Verfasser dieses Artikels nur der Putin-Propaganda auf, während in Wirklichkeit „die Russen“ auch hier für die Gefahren verantwortlich sind?
Wichtige Tatsachen sprechen dagegen. Die renommierte britische Zeitung „The Times“ hat sie in einem Artikel vom 7. April dieses Jahres zusammengetragen. Überschrift: „Ukraine´s secret attempt to retake the Zaporizhzhia nuclear plant” (Der geheime Versuch der Ukraine, das AKW Saporishshia wieder zu übernehmen). Am 19. Oktober hätten 600 ukrainische Soldaten mit mehr als 30 Booten einen Angriff auf das Territorium des AKW und der Stadt Enerhodar gestartet, die an das AKW grenzt. Gleichzeitig hätten die ukrainischen Truppen aus den USA stammende HIMARS-Raketen auf russische Stellungen nahe dem AKW abgefeuert, was zu einem Stromausfall in der Stadt geführt habe. Die „Times“ fragte beim Verteidigungsministerium der USA an, ob es den ukrainischen Truppen Zieldaten zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt habe. Eine „Pentagon-Quelle“ habe geantwortet, man teile Informationen mit den Ukrainern, aber diese seien selbst verantwortlich für die Auswahl und Entscheidungen, um Angriffe durchzuführen. Mit anderen Worten: die US-Berater haben nicht nur von dem Angriff gewusst, sondern auch Daten für den Beschuss russischer Stellungen geliefert. Der Angriff sei dann aber von russischen Truppen abgewehrt worden, bei hohen Verlusten auf ukrainischer Seite. Dabei sei es zu einem dreistündigen Feuergefecht mit einer kleineren Gruppe ukrainischer Soldaten gekommen.
„Radioaktive Strahlung für das ukrainische Volk und die ganze Welt“
Der fehlgeschlagene Angriff sei dann von ukrainischen Stellen einschließlich des Präsidenten bestritten worden, die westlichen Medien hätten deren Version übernommen und ausführlich verbreitet, so die „Times“.
Petro Kotin, Chef der ukrainischen Energoatom, sagte der „Times“ im Interview, es sei sehr gefährlich, solche Aktionen in der Nähe radioaktiven Materials auszuführen: „Any damage will bring radiation to the people and to the hole world.“ Er fügte hinzu, dass seiner Ansicht nach aber die größte Gefahr für das AKW die russische Anwesenheit sei. Die Russen hielten Lastwagen voller Munition in der Turbinenhalle des AKW und riskierten dadurch einen Nuklearunfall. Die „Times“ hält das allerdings für unwahrscheinlich, weil die Inspekteure der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), die vor Ort seien, von solchen Dingen nichts berichtet hätten.
Zusammenfassend stellt die „Times“ fest, dass die Angaben des russischen Ministeriums für Verteidigung in diesem Fall korrekt gewesen seien. Das hatte übrigens mitgeteilt, dass es sich schon um den vierten Versuch der ukrainischen Truppen gehandelt habe, die drei vorangegangenen seien Anfang September erfolgt, der erste davon hätte die Ankunft des IAEO-Teams zu seinem ersten Besuch verzögert. Beim zweiten Versuch waren über 250 Soldaten eingesetzt worden – ohne Erfolg.
IAEO für Zone der Sicherheit und des Schutzes
Der Direktor der IAEO, Rafael Grossi, hat kurz vor dem genannten Bericht der „Times“ das AKW ein zweites Mal besucht, danach dann mit Präsident Selenskij und mit russischen Vertretern gesprochen. Die Zeitschrift „Nuclear Engeneering International“ berichtet am 11. April, Grossi habe versucht, eine Vereinbarung über eine Zone der Sicherheit und des Schutzes rund um das AKW zu erzielen. Obwohl Russland einen solchen Plan unterstützt habe, habe Grossi keinen Erfolg erzielt und versuche nun eine Vereinbarung zu erreichen, dass beide Seiten sich jeglicher militärischen Handlungen enthalten, die auf das AKW zielen. Es scheint klar, dass die ukrainische Führung mit einer Zustimmung auf eine militärische Option verzichten würde. Die russischen Truppen könnten an dieser Stelle nicht mehr angegriffen werden. Das wäre zwar ein gewisser Vorteil, aber kann man nicht davon ausgehen, dass beide Seiten kein Interesse an einem schweren Nuklearunfall haben können? Im Sinne der Soldaten beider Seiten und im Sinne der Zivilbevölkerung, sei sie nun russisch oder ukrainisch orientiert?
Beschuss eines AKW und Inkaufnahme von Beschädigungen müssen Tabu sein!
Hier wäre offenbar ein konsequenter Einsatz zumindest der europäischen westlichen Verbündeten zur Überzeugung der ukrainischen Führung dringend nötig – er muss ja nicht öffentlich erfolgen. Ohne westliche Unterstützung könnte die Ukraine den Krieg nicht mehr weiterführen, das ist allgemeiner Konsens. Dann kann der Westen, nicht zuletzt unsere Regierung, der dortigen Führung auch deutlich machen, dass eine Verteidigung, die das zerstört, was man schützen will, abzulehnen ist. Und beanspruchen, dass der Schutz der deutschen Bevölkerung (wie der der anderen europäischen Länder) vor der Gefahr einer radioaktiven Wolke ein hohes Gut ist, das die ukrainische Führung beachten muss. Beschuss eines AKW oder Inkaufnahme von Beschädigungen desselben müssen Tabu sein! In unser aller Interesse.
Das auszusprechen bedeutet keineswegs, der Ukraine das Recht auf Verteidigung abzusprechen.
Im Übrigen zeigt der „Times“-Artikel, dass ein Medium, das sich für die Verteidigung der Ukraine einsetzt, deshalb nicht jede Darstellung der ukrainischen Regierung nachbeten muss. Gleichzeitig zeigt die „Times“, was ordentlicher Journalismus ist: die Wahrheit recherchieren und darstellen, unabhängig, ob sie für Freund oder Feind günstig ist. Viele deutsche Medien haben das vergessen. Vermutlich haben sie deshalb auch nicht über die Ergebnisse der „Times“ – Recherchen berichtet.
Quellen: The Times, 7.4.2023 (hinter Bezahlschranke)
Nuclear Engeneering International (Fachzeitschrift), 11.4.2023
Modern diplomacy (Internetplattform), 12.4.2023
Das Kernkraftwerk Tschernobyl wurde mit einem ungeheurem Einsatz von hundertausenden von Menschen im Arbeitswechsel verschlossen. Wegen der honen Strahlung konnten die Arbeiter immer nur kurze Zeit eingesetzt werden. Es waren „allein 1986 und 1987 200.000 Menschen (sogenannte Liquidatoren)“. Insbesondere gelang es das Grundwasser zu schützen. Ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, dass jetzt im Krieg solches möglich wäre. Der Schaden wäre daher dieses Mal sehr viel schlimmer.