Von Sebastian Seifert
Prof. Dr. Sebastian Seifert ist Professor für Physikalische Chemie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Dem gebürtigen Niedersachsen wurde im Spätsommer 2019 das dramatische Ausmaß der Klimakrise bewußt, was ihn aus seiner „akademischen Blase“ holte und dazu brachte, sich den „Scientists for Future“ anzuschließen. Er setzt sich seitdem mit seiner wissenschaftlichen Qualifikation dafür ein, „zur Überwindung dieser Menschheitskrise beitragen zu können“ und nähert sich dem Klima-Thema von der wissenschaftlichen als auch von der politischen Seite. Auf Twitter und in seinem Internet-Blog diskutiert und informiert er seitdem zu dem Thema.
Der folgende Text zum Umgang mit dem neuen Bericht des IPCC erschien Mitte April auf Twitter:
Jede Verwerfung hat Anfangserscheinungen. In der Physikalischen Chemie sprechen wir von „kritischen Fluktuationen“. Sie markieren Instabilität und leiten „Turnover“ ein. Am Ende steht ein völlig neuer Zustand. Mehr und mehr denke ich, dass wir genau das genau jetzt erleben.
Anfangs sind solche Fluktuationen mikroskopisch. Sie fallen nur jenen auf, die genau hinschauen. Doch sie wachsen. Exponentiell. Und dann passiert ein Umschwung. Unaufhaltsam und bisweilen irreversibel.
Ich habe mich oft gefragt, wie große Katastrophen wohl ihren Anfang nahmen. Etwa als ich einst Postdoc im Großraum Boston war und Portland Maine besuchte, wo 2001 frühmorgens der 11. September begann. Ich stellte mir vor, wie da noch keiner etwas ahnte. Und was dann folgte.
18 Jahre später, vielleicht in einer chinesischen Höhle, gab es wieder ein kritisches Ereignis. Wohl in einer Fledermaus entstand das allererste SARS-CoV2 Virus. Keiner bekam das mit. Noch nicht. Selbst als erste Aufmerksame die Gefahr witterten, verhallten ihre Warnungen.
Heute ist es wieder so. Jüngst erschien der neue IPCC Report. Er hat mich schwer getroffen. Denn er sagt mir, dass wir wohl wirklich gerade die Kontrolle verlieren.
Während sich weltweit erste Kipppunkte im Klimasystem zeigen, ist die zur Nullemission nötige Anpassungsgeschwindigkeit einfach unfassbar. Wir müssen nicht weniger schaffen als den globalen Emissionspeak allerspätestens in 3 Jahren. Danach brauchen wir einen schnellen Rückgang der Emissionen in weiteren fünf Jahren auf den Stand der 1960er. Und dann nochmal in nur einem guten Jahrzehnt auf null. Zero. Nix mehr. Und das auf globaler Ebene!
Die Transformation die wir brauchen ist so krass, dass es schon rein technisch fraglich ist, ob das in der nötigen Geschwindigkeit zu schaffen ist. Und wieder scheint diese unheilvolle Lage im Verborgenen zu stehen; wie in der chinesischen Höhle oder dem Provinzflughafen in Neuengland.
Schon ein kurzer Blick abseits der eigenen Twitterblase zeigt: es gibt praktisch kein Krisenbewusstsein, keine Kenntnis des Zustands, und noch viel weniger des Kurses, auf dem wir uns befinden. Und was am schlimmsten ist: es besteht nicht einmal Interesse für all dies.
Eine Bundestagspetition etwa, die aktuell nicht viel mehr fordert als ein Tempolimit und weitere absolut einfache Sofortmaßnahmen zum bloßen Anfang(!) einer Verkehrswende, wird übermorgen wohl ihr Quorum verfehlen. Und die meisten Menschen bekommen das noch nicht mal mit. (Hinweis: die Petition hat inzwischen doch noch ihr Quorum erreicht, ein Lichtblick!)
Und trotz allem beherzten Einsatz reißen die Bagger im Tagebau vor Lützerath täglich die Wunden des fossilen Zeitalters immer tiefer – gegen jeden wissenschaftlichen Verstand, und wieder weitgehend unbemerkt. Und mit Tankrabatten & Gasimporten schüren wir selbst noch das drohende Feuer.
Uns werden Scheinargumente und Gründe über Gründe serviert, warum alles nicht so einfach sei mit der Wende. Wir debattieren um Verkehrsschilder. Um Rechtssicherheiten, Genehmigungsverfahren, Abstandsregeln. Und wir subventionieren Klimaschädlichkeit mit 180 Mio. täglich.
Bei allem sehen wir primär den Verlust der wohligen Vergangenheit – statt der Abwehr einer monströsen Zukunft. Der pure Zynismus dieser Tage zeigt sich darin, dass sich die sozialen Konflikte der Gegenwartskrisen ausgerechnet um die Treibstoffe entladen, die sie befeuern.
Ich habe mich manchmal gefragt, wie es wohl wäre, als Zeitreisender auf der Titanic zu landen. Zu wissen, wohin der Kurs führt. Und doch bei niemand auf Interesse zu stoßen. Nicht, weil es niemand versteht. Sondern weil es niemand verstehen WILL.
Es ist schon fast absurd, dass ich beim Lesen des IPCC Berichts streckenweise fast erfreut war. Darüber nämlich, dass er mir zeigt, dass ich nicht irre bin.
Es stimmt wohl leider wirklich: das Erreichen des 1,5 Grad-Ziels ist praktisch tot.
Dennoch zählt auch weiterhin jedes Zehntel Grad. Und so gilt auch weiter für jedes Zehntel zu kämpfen.
Ich denke aber, gerade wir Klimabewussten, die nur allzu gut wissen was kommen wird und worauf wir zusteuern, müssen fortan auch viel, viel stärker an Mitigation (die Folgen abschwächende Maßnahmen) denken.
Ja, wir müssen Transformationsprozesse anstoßen. Wir brauchen erneuerbare Energien wo nur irgend möglich. Wir brauchen Schienen. Wir brauchen Radwege. Wir brauchen Gebäudedämmung. Und das braucht massiven Einsatz – und viel, viel Geld.
Doch es braucht auch ebensolchen Einsatz (und ebenso viel Geld) um Schutzräume für Hitzewellen zu bauen. Um Wasserreservoire zu schaffen. Um Schwammstädte, Dämme, Sturmsicherung und vieles mehr zu realisieren. Die Zeit dafür ist: genau jetzt!
Und wieder sehe ich kein Bewusstsein und keine Bereitschaft, dieser Lage ins Auge zu sehen …nirgends. Von massiven und dringlichen Vorbereitungen auf Brachialereignisse, die auf uns zukommen, höre ich noch weniger als von ernsthaften Bestrebungen zur Klimawende. Verdammt, Leute: Ich habe echt Angst.
Meine Art, mit der Angst umzugehen ist aktiv zu werden. Das Leben damit zu füllen, den Wandel zu gestalten; statt seine Folgen auszuhalten. Aktivist zu sein; für eine klima-stabilisierte Welt. Statt als Passivist dem Klima-Chaos tatenlos entgegenzusteuern.
Ja, vielleicht ist die Katastrophe schon in der exponentiellen Phase. Hin zum „Turnover“. Und vielleicht ist sie nicht mehr zu stoppen. Die physikalisch messbare Realität ist da brutal klar.
Doch vielleicht geht es gar nicht darum. Sondern einfach darum, das Richtige zu tun.
Es gibt zumindest eines, das Hoffnung macht. Nicht allein zu sein. Kein skurriler Sonderling zu sein. Sondern Teil einer Gemeinschaft zu sein, die verstanden hat. Und die ein mächtiges Band verbindet: Zusammenhalt. Das gibt Kraft; auch gegenüber kritischen Fluktuationen.
Das ist mal ein guter Bericht, Danke!
Kurz und fundiert auf den Punkt gebracht. Bitte mal 20:00 Uhr in allen Medien verlesen.
Danke!
Guter Beitrag, wichtig ist aus meiner Sicht nochmal zu betonen, dass die Hemmnisse zur Vermeidung einer Klimakatastrophe auf der sozialen Ebene liegen. wie es technisch geht wissen wir, jetzt müssen wir es „nur“ noch machen. Dazu müssen viele aktiv werden !