Es steht schlecht für diejenigen, die die Hochzeit 1913 als Anlass nehmen wollen, den Stolz auf die „braunschweigische Identität“ zu fördern: der Schwiegervater einer der Hauptverantwortlichen für die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, die Braut uneinsichtig bis ans Lebensende; der Bräutigam fällt später (1948) vor der Spruchkammer des Internierungslagers als völlig ignorant auf und auch der bis Ende 1913 im Herzogtum Braunschweig amtierende Regent Johann – Albrecht erweist sich als führender Förderer unterdrückerischer Kolonialherrschaft wie plumper Kriegspropaganda.
Aber gibt es nicht wenigstens innenpolitische Gründe, zum Herzogtum Braunschweig zustehen? Etwa nach dem Motto „Small was beautiful“ oder, frei nach Frank Sinatras Song,„We did it our way“?
Herzogtum Braunschweig – „small was beautiful“?
Wer dieser Frage nachgehen möchte, kann sich anhand des Sammelbandes „Moderne Braunschweigische Geschichte“ ein sehr klares Bild verschaffen. Zwei Braunschweiger Professoren, Werner Pöls und Klaus Erich Pollmann, haben dieses Werk im Jahr 1982 herausgegeben, im Großen und Ganzen entspricht es noch heute dem Stand der Forschung. Um die Antwort vorweg zu nehmen: das Herzogtum war politisch gleich in mehrfacher Hinsicht rückständig, und das sogar im Vergleich zum Kaiserreich insgesamt; es unterdrückte noch die zartesten Bestrebungen einer eigenständigen Frauenbewegung; es führte den Kampf gegen die sich formierende Arbeiterbewegung (also nicht zuletzt die Sozialdemokraten) mit den gehässigsten Mitteln, und von einer auch nur ansatzweise repräsentativen Volksvertretung konnten die Braunschweiger nur träumen – bis der Bräutigam-Herzog 1918 schließlich abdanken musste. Im Folgenden einige Informationen und Belege dazu:
„Bauernstube“ statt repräsentatives Parlament
Der Landtag des Herzogtums wurde keineswegs in allgemeinen, gleichen Wahlen vom Volk bestimmt. Vielmehr wählten Rittergutsbesitzer und freie Bauern je 10 Abgeordnete, Städte 12 Abgeordnete. Zusätzlich wurden 16 Abgeordnete „aus Männern der höheren Geistesbildung“ ausgewählt, darunter mussten zwei höherrangige Geistliche und vier Prälaten sein. Von den Wahlberechtigten der Städte war überhaupt nur ein Zehntel selber wählbar (Zensuswahlrecht). Das Wahlrecht war derart rückständig, dass bis 1918 kein Sozialdemokrat Abgeordneter dieses Landtags wurde, obwohl die Partei fast alle Wahlmänner der dritten Klasse (also der Städte) gewann. Und obwohl nach dem fortschrittlicheren Reichs-Wahlrecht schon seit 1890 Braunschweiger Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt wurden.Völlig zu Recht wurde daher im „Volksfreund“ den Abgeordneten des Landtags entgegengehalten: „Ihr seid wohl Vertreter der satten Existenzen und Ausbeuter in Stadt und Land, aber 75 % des Volkes haben Euch nicht gewählt.“ Auch die Bezeichnung dieser Einrichtung im Volksmund als „Bauernstube“ kam der Realität sehr nah. Und nicht einmal der 1911/12 unternommene Versuch, das Wahlrecht auch nur in Teilen zu reformieren, war erfolgreich.
„Frauen unbedingt von der Politik fernhalten!“
In diesem Landtag war es auch Konsens, dass Frauen von der Politik fernzuhalten seien. Frauen wurden im Vereins- und im Versammlungsgesetz wie Unmündige behandelt. An politischen Vereinen durften sie gar nicht teilnehmen, auch wurde Frauen die Vertretung ihrer beruflichen Interessen in Vereinen verwehrt. Selbst die Teilnahme am evangelisch-sozialen Kongress 1901 in Braunschweig wurde durch die Braunschweiger Polizei verboten. Der Vorstand eines „Frauenstimmrechtsvereins“ musste zu Kreuze kriechen und sich dafür entschuldigen, dass er den (sozialdemokratischen) Rechtsanwalt Dr. Jasper um Hilfe gebeten hatte.1902 erhob die herzogliche Polizeidirektion Einspruch gegen die Gründung einer Ortsgruppe des Allgemeinen deutschen Frauenvereins, während selbst in vielen preußischen Städten dessen Wirken durchaus zugelassen wurde. Etwa zwei Jahre später legte das herzogliche Staatsministerium einen Gesetzentwurf vor, nach dem Frauen die Teilnahme an Versammlungen und Vereinen nur erlaubt werden sollte, wenn diese „Zwecken der Nächstenliebe oder der Erziehung und des Unterrichts weiblicher Personen dienen“ – sonst nicht. Selbst so selbstverständliche wie naheliegende Forderungen wie die nach Einstellung einer weiblichen Kraft bei der Gewerbeinspektion (zum besseren Schutz der Arbeiterinnen) wurden im Herzogtum Braunschweig abgelehnt, während sie in vielen anderen Ländern des Deutschen Reiches wohlwollend behandelt wurden. Man kann Birgit Pollmann (der früh verstorbenen Ehefrau des oben erwähnten Professor Klaus Pollmann, die auch als Dezernentin für die Stadt wirkte) also nur zustimmen, wenn sie zusammenfassend für das Herzogtum Braunschweig feststellt:
„Den Aktivitäten der Frauenbewegung, der bürgerlichen wie der proletarischen, waren durch die braunschweigische Gesetzgebung und deren reaktionär-restriktive Interpretation durch Gerichte und Polizeidirektion engere Grenzen als in anderen deutschen Staaten gezogen.“
Kampf gegen die Arbeiterbewegung mit allen Mitteln
Wie im Reich insgesamt wuchs die Gruppe der Industriearbeiter auch in Braunschweig sehr rasch und mit ihr auch Gewerkschaften, Arbeitervereine und die sozialdemokratische Partei (zählten die Braunschweiger Gewerkschaften 1896 noch etwa 2.000 Mitglieder, so waren es 17 Jahre später schon fast 20.000). Aber auch die wurden im Herzogtum nach Kräften behindert und bekämpft. Umzüge zum 1. Mai wurden (bis 1914) regelmäßig verboten, sogar die Maifestzeitungen erlitten oft dieses Schicksal. Politische Vereine mussten bei der Polizeibehörde angemeldet werden, ebenso deren Versammlungen, die dann selbstverständlich polizeilich überwacht und vom anwesenden Beamten aufgelöst werden konnten. Frauen und Jugendliche waren von vornherein nicht zugelassen. Selbst unpolitische Veranstaltungen wie Tanzabende unterlagen strenger Reglementierung und sorgten für viel Unmut über die „stickige Polizeiluft der Stadt Braunschweig“. Ludewig schreibt, dass die herzogliche Regierung „alle Bestrebungen förderte, die sich gegen die Sozialdemokratie richteten: der Kirche fiel hierbei eine besondere Rolle zu“. Das Braunschweiger Garnisonskommando verbot sogar allen Soldaten den Besuch von Gaststätten, in denen Sozialdemokraten verkehrten. Die zahlreichen Unterdrückungsmaßnahmen erzeugten bei den Arbeitern ein Gefühl der Rechtslosigkeit und des Ausgeschlossenseins. Allerdings: „Das Vorgehen der Polizei und der Justiz förderte im Gegenteil die Politisierung und Solidarisierung, letztlich auch die Radikalisierung der Braunschweiger Arbeiterschaft.“ Insgesamt werden den „herrschenden Kreisen“ des Herzogtums „Reformunfähigkeit und Reformunwille“ attestiert.
Dass das Herzogtum Braunschweig wie das Kaiserreich unterging, war gut so!
Man erkennt: auch innenpolitisch war das Herzogtum Braunschweig im Kern überholt und rückständig. Auch wenn es hier und da einmal etwas gab, das im Herzogtum gut geregelt war (der oben genannte Sammelband führt auch dafür Beispiele vor allem aus dem 19. Jahrhundert an), in den letzten drei, vier Jahrzehnten seiner Existenz wurde immer deutlicher, dass diese politische Form morsch und hinfällig war. Weder mit einer verbesserten Propaganda noch mit der Hochzeit 1913 konnte dieser Form neues Leben eingehaucht werden. Darüber konnten auch Inszenierungen wie die zur Hochzeit 1913 (einschließlich eines freien Tages für alle Schulkinder), der Einzug des Herzogspaares in die Stadt Braunschweig im November desselben Jahres oder die 101 Böllerschüsse anlässlich der Geburt des Erbprinzen 1914 (wieder schulfrei) nicht hinwegtäuschen.
Kulturprojekt 2013: macht die Stadt sich lächerlich oder findet sie bundesweit Anerkennung?
Vor diesem Hintergrund wirken auch alle heutigen Bemühungen, dieses Herzogtum ins milde Licht der Nostalgie zu rücken, es kritiklos zu feiern oder gar als Grundlage einer modernen „braunschweigischen Identität“ zu nehmen, schlicht rückständig und lächerlich. Sollten sie sich bei dem „Kulturprojekt 2013“ der Stadt Braunschweig durchsetzen, hätten sie das hohe Potential, unsere Stadt auch bundesweit lächerlich zu machen.
Auf der anderen Seite verdienen die, die sich von der Unterdrückung des herzoglichen Staates nicht beirren ließen und die für ihre Rechte und für eine Demokratie kämpften, also etwa die politisch aktiven Frauen und die Arbeiter, unseren Respekt und viel mehr Aufmerksamkeit als bisher.Wenn das genannte Kulturprojekt dazu wertvolle Beiträge leisten würde, hätte es das Potential, unsere Stadt kulturell weiter zu bringen und ihr vielleicht sogar bundesweit zu mehr Ansehen zu verhelfen. Text als pdf.