Das Filmland Ukraine auf dem 36. Braunschweig International Filmfestival
Das Braunschweiger Publikum kann sich ab Montag, dem 7. November wieder auf eine wunderbar überbordende cineastische Woche mit vielen fantastischen Filmen freuen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, in einer eigenen Programmreihe ausgesuchte Produktionen aus der Ukraine zu entdecken.
Angesichts des brutalen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine will das BIFF in diesem Jahr das cineastische Schaffen der Filmemacher*innen in der Ukraine besonders würdigen und damit auch solidarisch die ukrainischen Filmfestivals unterstützen. Die Chance, das Filmland Ukraine kennenzulernen, ist auf jeden Fall eines der Highlights des diesjährigen Festivals.
Produziert nach der Unabhängigkeit 1991, zeigen uns die Festivalfilme einen Überblick über die cineastische Entwicklung des Landes – nach dem Bankrott des Kommunismus und dem Start in die Unabhängigkeit – bis heute. Filme sind ja immer auch Spiegel einer Gesellschaft und ihrer Menschen und so bietet sich im Laufe der Festivalwoche die Gelegenheit auf einen intensiven und sensiblen Blick – jenseits der täglichen Schlagzeilen.
Die Kolleg:innen des Odesa International Film Festival (OIFF) und des Kyiv International Short Film Festival (KISFF) hatten von den Braunschweiger Festivalmachern „Carte blanche“ für die Auswahl der gezeigten Filme.
Grundlage für die Filmauswahl des OIFF war die Liste der 100 besten Filme des ukrainischen Kinos, basierend auf einer Umfrage des National Oleksandr Dovzhenko Film Centre und der „Union of Film Critics of Ukraine“
Bedingt durch die Corona-Pandemie 2020 musste die ukrainische Filmwirtschaft bereits viele Kinos schließen und die Produktion neuer Filme stoppen. Ein großer Teil der staatlichen Förderungen für Produktion, Vertrieb oder auch die Unterhaltskosten des größten ukrainischen Filmarchivs, des Dovzhenko Centers, konnte einfach nicht mehr finanziert werden.
Durch den russischen Angriffskrieg hat sich für die ukrainischen Filmschaffenden nun alles noch dramatischer verändert. Der permanente Kampf um Produktion, Distribution und Sichtbarkeit ihrer Filme ist nun – über die akuten wirtschaftlichen Probleme hinaus – zu einem existentiellen Kampf um die Bewahrung der ukrainischen nationalen Identität geworden, verzweifelt, aber mutig geführt, inmitten all der russischen Versuche, ihr Land auch kulturell zu vernichten.
Zu den sieben herausragenden ukrainischen Langfilmen der Reihe “INDEPENDENTS” gehört bespielsweise der Spielfilm
MY THOUGHTS ARE SILENT, von Antonio Lukich, produziert 2019.
Dem Regisseur gelingt es hier wunderbar Gefühl, Drama, leichte Lakonie und Situationskomik ineinander fließen zu lassen.
Vadym, 25, Tontechniker, Musiker und Träumer wird von seinem Job in einer dummen Seifenopernproduktion gefeuert. Er nimmt einen eher seltsamen Auftrag an – für ein kanadisches Computerspiel Tiergeräusche in den Karpaten aufnehmen. Als Belohnung winkt vielleicht sogar ein Job in Kanada. Sieht eigentlich einfach aus, denn Vadym ist selbst in dieser Region geboren und seine Mutter Galia, Taxifahrerin in der Heimatstadt Uzhgorod, erklärt sich bereit, ihm zu helfen.
Mutter Galia hat nun allerdings gar kein Verständnis für seinen Wunsch, ins Ausland zu gehen und nutzt die günstige Gelegenheit, um ihm ab sofort pausenlos auf die Nerven zu gehen. Vadym soll jetzt endlich “normal” werden, in der Ukraine bleiben, gefälligst heiraten und ihr Enkelkinder schenken.
Das Handling von Job und Mutter gleichzeitig stellt Vadym vor ziemliche Herausforderungen – Mutter Galia aber auch. Schließlich lernen beide, loszulassen und ihre eigenen Wege zu gehen.
Ein ergreifendes Werk von stiller Kraft und einer ganz eigenen Schönheit ist der Regisseurin Iryna Tsilyk mit dem Dokumentarfilm THE EARTH IS BLUE AS AN ORANGE (2020) gelungen.
Die alleinerziehende Mutter Anna und ihre vier Kinder leben in Krasnohorivka, einer Stadt an der Frontlinie im Donbass, der schon seit Jahren vom Krieg zerrissenen Region der Ostukraine. Während die Außenwelt von Bomben- und Granaten-Angriffen, von Zerstörung und Chaos beherrscht ist, gelingt es Anna und den Kindern, ihr Haus als sicheren Hafen voller Leben und Licht und Hoffnung zu erhalten. Gemeinsam haben sie die Leidenschaft für das Kino und gemeinsam drehen sie einen Film, der von ihrem eigenen Leben in Kriegszeiten inspiriert ist. Sie verwandeln das Wohnzimmer in ein provisorisches Studio , gehen auf die Straße, um Soldaten vor ihrer Kamera zu interviewen, streiten sich über Kameraeinstellungen und Szenenfolgen. Wir sehen berührende Momente der Hoffnungslosigkeit, aber auch voller ansteckender Freude; und wir sehen die Umwandlung eines Traumas in ein Kunstwerk als einen der Rettungswege, um menschlich zu bleiben. THE EARTH IS BLUE AS AN ORANGE ( eine Zeile aus einem Gedicht von Paul Éluard) hat beim Sundance Film Festival 2020 den Weltkino-Regiepreis für den besten Dokumentarfilm gewonnen.
OXYGEN STARVATION (1991) von Andrii Donchyk gehört zu den allerersten eigenständigen ukrainischen Filmproduktionen. Er nutzte die neuen Freiheiten, bisher verbotene Themen zu behandeln und geht in diesem Spielfilm gleich hart zu Sache: mit einer intensiven filmischen Studie über einen ukrainischen Soldaten, der sich den “traditionellen” Misshandlungen und Folterungen der neuen Rekruten in der damaligen sowjetischen Armee nicht beugen will. Die sowjetische Armee war einer der schlimmsten Orte für die Menschenwürde. Der junge Soldat weigert sich zu gehorchen. Die erzählte Geschichte basiert auf den realen Erfahrungen des Regisseurs Andrii Donchyk und seines Autors Yurii Andrukhovych.
Im sehr spannenden Kurzfilmprogramm FOCUS ON UKRAINE: ON FIRMNESS AND SINCERITY erzählen fünf junge Regisseurinnen, die die gerade aufblühende neue Welle des ukrainischen Filmschaffens repräsentieren, in ihren mehrfach prämierten Filmen fünf Geschichten über Beziehungen, Zuneigung, Familienbande, Aufrichtigkeit und den Mut, sich selbst trotz aller Widrigkeiten treu zu bleiben.
LILAC (2017), der 30minütige Spielfilm von Kateryna Gornostai, beobachet zärtlich-realistisch fünf Freundinnen, alle Ende Zwanzig. Es ist Mai in Kiew, die Zeit der Fliederblüte. Beim lustigen, leicht alkoholischen “Mädels-Nachmittag” der jungen Frauen tauchen zwischen den lebhaften, lustigen Sofa- und Küchengesprächen auch verborgene Ängste, Sehnsüchte, Konflikte auf. Einige sind mutig und sprechen darüber, andere bleiben still, schweigen ihre Sorgen in sich hinein.
KITTENS (2016),von Zhanna Ozirna zeigt uns zwei junge Frauen, ein Liebespaar, in einer schlichten Lemberger Wohnung. Es ist kalt. Sie führen ein zwangloses, assoziatives Gespräch über ihr Leben, erledigen dabei ihren Haushalt, spielen mit ihrer Katze, nehmen ein Bad, stellen sich Fragen nach ihrer Zukunft, Kinder, ihrer persönlichen Freiheit inmitten der noch immer traditionellen bestehenden gesellschaftlichen Normen und Bräuche.
Der Animationsfilm „The Tiger is Strolling Around“ (2021) der Regisseurin Anastasia Falileeva ist in Stop-Motion gedreht und spricht über Depression bei Jugendlichen, erzählt als Geschichte der Schülerin Katsumi, die an einer depressiven Störung leidet und selbst an der Unterstützung und Liebe von geliebten Menschen verzweifelt.
Es gibt auf dem Festival natürlich noch viel mehr dieser außergewöhnlichen, berührenden und informativen Filme aus der Ukraine zu entdecken.
Die komplette Übersicht über die Filme der Reihe “Independents: Ukrainisches Kino zwischen 1991 und 2021” findet sich unter diesem Link: https://www.filmfest-braunschweig.de/programm/filmreihen-2022/details/independents-ukrainisches-kino-zwischen-1991-und-2021-698
Und hier die Übersicht über die fünf Kurzfilme bei “Focus on Ukraine: On Firmness and Sincerity” https://www.filmfest-braunschweig.de/programm/filmsuche/details/focus-on-ukraine-on-firmness-and-sincerity-10877
Unter diesem Link findet sich eine Zeitschiene zum Download mit den Infos wo und wann alle Festivalfilme laufen. https://www.filmfest-braunschweig.de/programm/filmreihen-2022