„Der marktgerechte Mensch – wenn der Mensch zur Ware wird“

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Heute nuetzlich - Morgen Muell. Im Einzelhandel dominiert die Arbeit auf Abruf

Betrachtungen zu dem Film von Leslie Franke und Herdolor Lorenz.

Von Jan Rabe

Nachdem der Film in den letzten Wochen im Universum-Kino gelaufen ist, greift nun Attac Braunschweig das Thema auf und zeigte den ersten Teil des Films auf dem „Attac-Themenabend“.

Der Film beschäftigt sich mit den vielen Eigenschaften der sogenannten Marktwirtschaft, die den Großteil der Bevölkerung – also uns – zu willfährigen Arbeitnehmern formen sollen, rund um die Uhr einsetzbar und in erster Linie billig, um billige Massenproduktion für die dazu angepassten Konsumenten zu ermöglichen. Deshalb möchten wir mit dieser Veranstaltung ein Diskussionsforum anbieten, im Idealfall, um eigene persönliche Erfahrungen auszutauschen.

In diesem Film werden an vielen Beispielen alte und neue Taktiken und Strategien vorgeführt, die uns entmündigen und steuern und unseren Widerstand dagegen ersticken sollen. Es sind alte Mechanismen, aber auch neue, die an uns ausprobiert werden. Der Arbeiter muss billig sein, dann ist das Produkt auch billig. Das steht schon alles bei Karl Marx und Zeitgenossen.

Chancen der Digitalisierung

Neue Varianten werden mit dem ‚digitalen Wandel‘ möglich. Wenn man mit einem Smartphone Menschen orten kann wie ein Flugzeugtower, ihre Bewegungen messen und sie jederzeit erreichbar sind wie mit einer Fernsteuerung, kann man sich eine Gig-Ökonomie basteln.

Ein Gig – das weiss man, wenn man Musiker kennt, oder ‚Blues Brothers‘ gesehen hat – ist ein Auftritt für einen Abend. Den Kneipenbesitzer interessiert nicht, ob du krank bist, Familie hast oder die Miete für den Übungsraum brauchst – am besten gar nichts davon, das ist am billigsten. Er zahlt ein bisschen Geld für den Auftritt. Ob die Musik gut ist, interessiert nicht, wenn die Gäste viel trinken. Passt dir was nicht? Vor der der Tür stehen dutzende Neue – kurz: Hire and fire. Der Kapitalismus von seinen ’schönsten‘ Seiten: alles wird billiger, aber dafür schlechter für alle Beteiligten.

Viele Arbeitsplätze der Neuen Ökonomie funktionieren so.

Die Propaganda spricht von Marktwirtschaft. Man denkt an eine Art ‚Auenland-Ökonomie‘: Hobbits und fleissige Zwerge betreiben Marktstände vor mittelalterlichen Häusern, und Elfen und Trolle wandern hin und her, vergleichen Waren und Preise. Etwa so in der Art?

Die schlichten Auenland-Ökonomen interessiert nicht, wem die Stadt gehört, wer das Geld prägt (oder sogar druckt?), wer welchen Müll entsorgt und wer die Preise bestimmt!

Ob Menschen leben und Familien gründen können, ob sie am Rand der Gesellschaft knapsen oder sich aus Armut keine gesunden Lebensmittel leisten können, ob sie sich um ihre Kinder kümmern oder gute Beziehungen pflegen, weil sie Arbeits- und Lebenszeit an die Gewinninteressen des Unternehmers anpassen sollen – das taucht in der Kalkulation nicht auf, sei es nun ein Lieferdienst für Fertignahrung oder sei es die ‚Fast fashion‘-Kette.

Genausowenig erscheinen dort die Kosten der Ernährung, weil Menschen Fertignahrung essen oder die Deponiekosten von Chemiefasern der Bekleidung. Die Industrie externalisiert Kosten und verwendet an das Produkt angepasste Kunden, aber davon weiter unten mehr.

„Der Chef ruft dich schon an, wenn du arbeiten darfst“

Fast fashion heisst ’schnelle Mode‘. Schnell ‚In‘, schnell ‚out‘, schnell produziert, billig verkauft – und wenn nicht, wird eben alles weggeschmissen. Ladenmiete in der Innenstadt ist schliesslich teuer.

Dafür wird Arbeitskraft billig im Niedriglohnsektor gehalten – die Beschäftigten bekommen sogenannte Flexverträge mit Mindeststundenzahlen, und notfalls kann man auch auf die Mindeststunden ‚freiwillig‘ verzichten, und damit eben auch auf Gehalt – wer nicht mitspielt, bekommt gar keine Arbeit.

Eine Flexibilität ohne eigene Wahlmöglichkeit ist einfach nur Unsicherheit, die Angst dient als Steuerelement. Dem Management erleichtert sie die Planung, aber die Arbeit auf Abruf nimmt den Menschen die Planung des eigenen Lebens weg. Die Unsicherheit der Arbeiter senkt die Arbeitskosten für den Besitzer des Unternehmens.

Die Konkurrenz zwingt die Menschen in das Niedriglohn-Arbeitslager. Dafür ist die Atomisierung notwendig, die Zerlegung der Gesellschaft in ihre kleinsten Teile, die Isolierung der Menschen voneinander. Damit wird verhindert, dass die Geschäftsführung die Kontrolle über die Arbeiter verliert – sie dürfen sich nicht miteinander solidarisieren oder gar Widerstand organisieren.

Höhere Löhne beispielsweise würden den Profit verringern, genauso wie Erleichterungen für Kranke oder Schwangere.

Nicht nur einfache Tätigkeiten

Man könnte glauben, in Bereichen mit höheren Bildungsabschlüssen ist die Situation besser, aber auch dort gibt es ähnliche Entwicklungen. Und das umso stärker, je mehr Jugendliche eines Jahrgangs an den Universitäten studieren.

Reguläre, unbefristete Stellen gibt es in der Wissenschaft fast gar nicht – ausser als Professor. Betrachtet man so eine Vorlesung, steht vorn ein Professor vor den vielen Studenten. Da ist die Frage, wie gross ist die Chance, hier arbeiten zu dürfen?

In den letzten Jahren sind die Studentenzahlen gestiegen, ohne dass die Menge der Festanstellungen erhöht wurde. Die Last der Lehre trägt der gering entlohnte Mittelbau mit befristeten Doktorandenstellen zum Beispiel. Die so erzeugte künstliche Konkurrenz wird zum Rattenrennen in der Wissenschaft, jede gegen jeden.

Eine Doktorandin im Film bezeichnet das Ganze als einzige „extreme Entsolidarisierungsmaschine“ – da ist dann wieder die Konkurrenz, die Atomisierung der Gesellschaft, die Entsolidarisierung der Menschen.

Plattformökonomie

Crowdwork in der Plattformökonomie bedeutet die Automatisierung der Arbeitsorganisation mit Algorithmen. Algorithmen sind hier z.B. mathematische Formeln für die Bewertung der Arbeiter. Die Werte der Parameter, die in die Formeln eingesetzt werden, stammen direkt aus automatischen Messungen der Arbeiter.

Die Webcam-Überwachung ist vielleicht gar nicht einmal der unangenehmste Aspekt der Computerarbeit, der man gelegentlich zustimmen muss. Keystalking heißt die technische Überwachung des Schreibverhalten mit der Tastatur: wie schnell schreibt der Crowdworker/-in, wie oft macht sie Pause? Vertippt sie sich?, wie oft wird korrigiert? Die gemessenen Parameter kann dann der Algorithmus für die Bewertung der Person verwenden, damit können alle Arbeiter in Echtzeit bewertet (und danach bezahlt) werden. Auch hier senkt die verschärfte Konkurrenz die Preise, lies: den Lohn.

Sport-Apps

Smartphones können mittlerweile auch Verhalten (wie Schrittzahlen, Liegestütze), Ernährung oder Gesundheitszustand messen. Sie halten uns in einem Hamsterrad, auch im Privatleben. Krankenkassen, aber auch Arbeitgeber erklären uns für ’selbstzuständig‘ für unseren Gesundheitszustand. Wir brauchen uns nur überwachen zu lassen. ‚Achtsamkeit‘ ist das Zauberwort. Das Versprechen der Technik lautet: jeder kann gesund, beziehungsfähig, sogar reich und kreativ sein – man muss sich nur der Kontrolle unterwerfen. Und wer nicht gesund und reich ist, ist selber schuld – er will ja gar nicht.

Im Kampf gegen sich selbst nie aufgeben, gute Energie zu erzeugen

Computer dienen nicht nur der Kontrolle des einzelnen Menschen, sie verbinden Menschen auch miteinander.

Aussagen der Menschen zur Computerkontrolle sind widersprüchlich, aber stimmt es, dass man mit der App auf dem Telefon nur gegen sich selbst kämpft, unter dem Beifall der Online-Freunde? Der Sport hilft, gegen den Wettbewerb in der realen Welt zu kämpfen. Es hilft dabei, mit dem Stress im Wettstreit unter Kollegen oder Kommillitonen um Gehalt oder gute Noten besser fertig zu werden. Aber er inszeniert natürlich auch ein eigenes Wettkampfszenario.

Gleichzeitig mit dem Verhältnis zu den Mitmenschen ändert der Wettbewerb das Verhältnis zum eigenen Selbst. Jeder ist für sich selbst zuständig. Jeder hat Freunde und Kollegen, solange er oder sie gut funktionieren, und alle für das Unternehmen arbeiten, „für das Unternehmen streiten“.

Kommt es zu Brüchen – sei es dass man selbst unter dem Druck nachgibt und krank wird, oder sei es dass das Unternehmen durch Konkurrenz bedroht wird, dann kann diese kooperative Struktur aus Beziehungen Schaden nehmen oder verschwinden. In der „Kultur der Selbstzuständigkeit“ trägt jede die „Verantwortung für das eigene Scheitern“ allein (Greta Wagner).

Die Atomisierung der Gesellschaft, die Isolierung der Menschen voneinander ist – wenn nicht von vornherein beabsichtigt – dann doch zumindest nützlich für den Arbeitgeber. Aber wenn die Firma als einzige Bezugsgruppe bleibt, bedeutet das auch Vereinsamung von Arbeitnehmern – schon unter Druck, und spätestens im Fall des Versagens.

Stress verändert nicht nur die Gehirnfunktion

Lebensmittelzusätze in Fertignahrung, die Menschen aus Zeitersparnis kaufen, können entzündungsähnliche Reaktionen im Körper erzeugen. Ähnliches kann sich auch entwickeln, wenn das innere Bedürfnis nach Gemeinschaftsbildung verletzt wird. Komunikationskanäle im Körper verhalten sich wie bei körperlichen Verletzungen. Die Dauerbelastung wirkt im Immunsystem so, dass endzündliche Prozesse öfter auftreten.

Rückenschmerzen als Volkskrankheit, steigender Verbrauch von Psychopharmaka, Burnout sind auch die Symptome für ein Zusammenbrechen des sozialen Bindungssystems. Ein nicht funktionierendes System schädigt seine einzelnen Teile, wir werden auf Verschleiß gefahren.

Was bleibt ist – wie vor Jahren mal ein Arzt formulierte – das „sozialverträgliche Frühableben“. Wir bekommen eine Oberschicht, die eben ein paar Jahre länger lebt als die überarbeitete Unterschicht, und irgendwann, wie heute in den Vereingten Staaten, eine sinkende Lebenserwartung.

Wollen wir das?

Naeherin in Aethiopien: Und es geht noch billiger – 27 US$ ist der Monatslohn

Der zweite Teil von Film und Artikel dreht sich um die Produzenten der Billigketten am Rand Europas und in Afrika, die Ratgeber-Industrie, die sozialen Veranlagungen von Kleinkindern, die Gemeinwohlökonomie und die Freiheit der Ausbeuter im globalisierten G20-Kapitalismus. Ein kleiner Rundumschlag, oder wie es vor meiner Zeit hiess:

„Es geht nicht um die Brötchen, es geht um die ganze verdammte Bäckerei!“

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