Jessy Wellmer fragt uns in der ARD-Doku vom 26.08.zur besten Sendezeit: „Machen wir unsere Demokratie kaputt?“ Mit diesem Satz stehen die Täter schon fest, das sind WIR. WIR ALLE! Lieschen Müller ebenso wie Heiner Schmidt. Der unausgesprochene Appell dahinter ist klar: Bei den Landtagswahlen im OSTEN durch ein richtiges Kreuz auf der Wahlliste ein Zeichen für Demokratie setzen. Und da gerade im Osten so viele Uneinsichtige leben, muss die ARD ihnen mal zeigen, wie schnell man „unsere Demokratie kaputt“ machen kann.
Die grundlegende Repräsentationslücke zwischen großen Teilen der Bevölkerung (vor allem die ärmeren und sozialpolitisch gefährdeteren) und der Regierungspolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte wird komplett ausgeblendet, die Analyse der Demokratiegefahren bleibt daher sehr oberflächlich, wie die folgende Auflistung zeigt:
– Es werden Videosequenzen gezeigt, vor allem von Rechtsextremen oder der AFD, die die Gefahr des Neonazismus veranschaulichen. AFD-Wähler sollen wissen, dass jede Stimme für die AFD eine Gefährdung unserer Demokratie darstellt, obwohl diese Partei legitimerweise auf dem Wahlzettel steht, solange sie vom Bundesverfassungsgericht nicht verboten wurde.
– immer mehr Wutbürger und Radikale äußern ihre Aggressionen und ihren Hass gegen PolitikerInnen, werden teilweise übergriffig und gewalttätig bis hin zu Attentaten: Unsere Demokratie wird angegriffen!
– Etliche Kommunalpolitiker haben deshalb schon ihre Ämter niedergelegt.
– Viele Menschen hätten das Gefühl, ihre politischen Ansichten nicht frei von sozialer oder politischer Diskriminierung sagen zu können. Hierüber wundert sich Jessy Wellmer auf eine etwas naive, fast dümmliche Weise, denn wir leben doch „in einem der freiesten Länder der Welt“. Doch über 55% der BürgerInnen in Ostdeutschland äußern in Umfragen Zweifel daran.
– Was die Menschen überwiegend bewege, seien die Themen Krieg, Corona-Politik, die Zuwanderung und die Ablehnung einer diversen Gesellschaft, sagt Jessy Wellmer. Vielleicht hat sie hier nicht richtig zugehört, ich vermute, dass die Ablehnung nicht der Verschiedenheit der Geschlechteridentitäten gilt, sondern überwiegend dem Gender-Mainstream in den Medien, besonders im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in der kommunalen Verwaltung, der von engagierten Minderheiten forcierten Änderung von Sprachregeln, die von keiner Mehrheit der Bevölkerung oder des Parlaments legitimiert wurde.
– Die breite Ablehnung der deutschen Militärhilfe für die Ukraine in der ostdeutschen Wählerschaft wird in dem Bericht kaum thematisiert, man merkt, das ist ein zu heißes Eisen für die ARD.
– Als größte Gefahr wird die Stärke der AFD gesehen, deren Rechtsextremismus als „vom Verfassungsschutz gesichert“ dargestellt wird. Problematisch dabei ist, dass dabei immer exponierte Rechtsradikale dieser Partei vorgeführt werden. Die gewählten Repräsentanten dieser Partei in kommunalen oder Landesparlamenten und ihre Wählerschaft werden hingegen nicht differenzierend hinterfragt. Das „Bündnis Sarah Wagenknecht“ kommt nach Wellmer gleich hinter der AFD als zweiter Gefährder. Keine ihrer politischen Ziele werden genannt. Sie steht hier einfach für Extremismus! Auch hier merkt der Fernsehzuschauer gleich: Keine Stimme für das BSW, sonst gefährdest du unsere Demokratie!
– Warum sich viele Menschen von „der Politik“ auf Landes- und Bundesebene nicht verstanden fühlen, wie eine der interviewten Frauen sagte, wird von Frau Wellmer leider nicht hinterfragt. Die Gefährdung der Demokratie kommt demnach von uns allen, nicht von der Politik. Sie wird nämlich nur nicht richtig verstanden: Wir sind zu doof. Uns fehlt das richtige Verständnis und die richtige moralische Haltung. Das erklärt uns dann nochmal am Schluss der Sendung der Soziologe Steffen Mau: „ In Ostdeutschland liegt das eben auch an der kürzeren demokratischen Tradition, … aber auch an der DDR…“ Na klar! Die Ossis haben einfach noch nicht richtig Demokratie gelernt, sind diktatursozialisiert und neigen zum Rassismus. Jetzt habe ich am Ende der Sendung endgültig die Nase voll!
Das war für mich eine Dokumentation journalistischer Verständnislosigkeit, aber auch gezielter Wahlbeeinflussung. Obwohl Frau Wellmer selbst im Osten aufgewachsen ist (bei der Wende war sie erst 10), fehlt jedes Verständnis für die erlebte Geschichte der Enttäuschungen der Ostdeutschen, denen die Demokratie durch Westdeutsche quasi über Nacht übergestülpt wurde, deren wirtschaftliche und soziale Basis durch den von der Treuhand gemanagten Ausverkauf der DDR-Wirtschaft weitgehend zerstört wurde, die erlebt haben, wie fast alle Führungspositionen in der Verwaltung, in Universitäten, in kommunalen wie Landesämtern und in großen Unternehmen von Westdeutschen besetzt wurden.
Detailliert beschrieben hat das der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seinem lesenswerten Buch „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung.“ Die Erfahrung, von der (westdeutsch geprägten) Demokratie ausgeschlossen zu sein, hat sich tief in die DNA der Ostdeutschen verankert. Nicht wirklich in der bundesdeutschen Politik und ihrem medialen Mainstream gehört und repräsentiert zu werden, zugleich aber sich ständig anhören zu müssen, welche Parteien man zu respektieren habe und welche nicht, ohne eine Alternative zu haben, das ist wohl das große Dilemma, vor dem viele Wähler stehen. Was den medialen Mainstream betrifft, da haben die „Ossis“ vor uns „Wessis“ einen großen Erfahrungsvorsprung: Sie sind erfahrener damit, kritisch und misstrauisch im Umgang mit Regierungspropaganda und ihrem medialen Spiegel umgehen zu können, „diktatursozialisiert“ sozusagen!