Am 19. Januar 1829 wurde Johann Wolfgang Goethes Tragödie Faust am Hoftheater Braunschweig uraufgeführt. Theaterdirektor August Friedrich Klingemann inszenierte mit großem Erfolg eine radikal redigierte Bühnenfassung. Seit dieser Zeit ist Braunschweig sozusagen Faust-Stadt. Das Libretto der gleichnamigen Oper von Charles Gounod stammt von Jules Barbier und Michael Carré nach Goethes Faust I. Die Oper, die in Deutschland oft unter dem Titel Margarethe auf dem Spielplan auftaucht, wurde 1859 in Paris uraufgeführt. Die deutsche Erstaufführung fand 1861 in Darmstadt statt. Die Bedeutung des Werkes im Musiktheater lässt sich auch daran ablesen, dass die Metropolitan Oper in New York 1883 mit Gounods Faust eröffnet wurde.
Nach vielen Jahren widmet sich das Staatstheater Braunschweig dem Werk und eröffnete die Opernsaison 2019/20 damit. Besonders hervorzuheben ist, dass das hiesige Theater alle Rollen aus dem Ensemble besetzen konnte und nicht auf Gäste angewiesen war. Mehr noch: Das von Operndirektorin Isabel Ostermann und Generalmusikdirektor Srba Dinic entwickelte Ensemble erlaubt sogar zwei Besetzungen entscheidender Rollen.
Die berührende und betont dämonische Darstellung des Stückes in der Inszenierung von Markus Bothe begeisterte von Oktober bis Dezember 2019 das Publikum im Großen Haus des Staatstheaters. Zu Beginn der packenden Inszenierung ist Faust ein ans Krankenbett gefesselter hinfälliger – fast schon präfinaler – Mann. Die Drehbühne ermöglicht rasche Wechsel und macht eine unaufhaltsame Entwicklung des Dramas augenfällig nachvollziehbar. Besonders beeindruckend ist das meterhohe drohende Skelett, dass zum Schluss die Bühne beherrscht. Nach der Premiere am 18. Oktober 2019 gab es, was im Braunschweiger Opernleben verhältnismäßig selten ist, weder für die Regie, noch für das Bühnenbild oder die Kostüme, Buh-Rufe. Das Regie- und Ausstattungsteam wurde vielmehr bei der Premiere mit Bravo-Rufen und Ovationen gefeiert.
Zur Handlung: Die Natur gibt ihre Geheimnisse auch dem Wissenschaftler Faust nicht preis. Im Mittelpunkt der Oper steht, wie in Goethes Werk, Faust, der am Ende seines Lebens noch einmal die große Liebe erleben möchte und den Teufel darum bittet, ihm die Möglichkeit dazu zu geben und gleichsam seine Jugend zurückzuerlangen. Der so beschworene Teufel nähert sich Faust und verspricht Liebe gegen den Preis der Seele. Mit Teufelshilfe kann Faust die junge unverheiratete Marguerite für sich einnehmen. Das Drama nimmt seinen Lauf. Faust verführt Marguerite und wird ihrer schon vor der Geburt ihres gemeinsamen unehelichen Kindes überdrüssig. Im wüsten Treiben der Walpurgisnacht, in der Faust völliges Vergessen sucht, drängt ihn die Vision Marguerites zu ihr zurück. Auf selbige, die wahnsinnig vor Schmerz ihr Kind mordete, wartet die Hinrichtung. Selbst mit Teufelshilfe gelingt es Faust nicht, sie zu befreien. Die bösen Mächte fordern ihren Lohn.
Ein beeindruckender und schauspielerisch äußerst engagierter, der Komik fähiger Méphistophélès ist der neu am Staatstheater engagierte Bassist Valentin Anikin. Seine gesangliche Leistung ist leider durch eine verhangene Klanggebung gekennzeichnet, die sich als kehlig – zu tief im Hals sitzend – beschreiben lässt. Anikins Neigung zum Knödeln, Stemmen und Quetschen, die üblicherweise manchen Tenören vorgeworfen wird, lässt eine dramatische Steigerung seines stimmlichen Volumens oder gar Klangschönheit kaum zu. Unter der „speziellen Gesangstechnik“ leidet auch seine sprachliche Verständlichkeit massiv.
Seit vielen Jahren gehört Ekaterina Kudryavtseva zu den Lieblingen des Publikums. Ihr Gesang bietet dem Publikum immer einen echten Ohrenschmaus. Ihr beweglicher lyrischer Sopran von Format ist wunderbar weiblich und zeigt brillante Koloraturen. Sie nutzt diese nicht rein formal musikalisch, sondern gibt ihnen darüber hinaus einen künstlerisch-stilistischen Sinn. Für die gesangliche Darstellung der Arie «Il ne revient pas.» bekommt die Sängerin zu Recht Szenenapplaus. Bravo! Das Publikum feierte sie zum Schluss mit Ovationen, die auch dadurch zu rechtfertigen sind, dass die Sängerin eine subtile Darstellung der Marguerite zeigt. Ekaterina Kudryavtseva überragt vom Gesangsniveau alle anderen Sängerinnen und Sänger auf der Bühne. Und ihr Spiel steht dem in Nichts nach.
In der Premiere gibt der junge Tenor Kwonsoo Jeon einen wandlungsfähigen Faust, dessen Stimme insbesondere im Forte gut anspricht und auch beeindruckende Spitzentöne präsentieren kann. Oft ist seine Interpretation nicht ausreichend gefühlvoll und gesanglich matt. Insbesondere die ausgeprägt lyrischen Passagen der Partie gelingen dem Sänger wenig herausragend. In der weltbekannten Arie «Salut! Demeure chaste et pure.» bleibt der Tenor immer knapp unter dem erforderlichen Ton und singt mit zu wenig Schmelz. Die erforderlichen Spitzentöne trifft er zuverlässig und weiß sie auch zu halten. Demgegenüber bietet der finnische Tenor Joska Lehtinen mit ausgesprochen italienischer Technik eine Stimme, die männlich klingt und höhenstark aufblühen kann. Sie ist gut fokussiert und auch in den lyrischen Momenten kräftig und strahlend mit Schmelz. In Duetten mit der wundervollen Ekaterina Kudryatseva verschmilzt sein Gesang optimal mit ihrem. Der Tenor fällt zudem durch ein natürliches Spiel auf. Er präsentiert einen „megacoolen“ Faust, der den Sunnyboy mehr herauskehrt und weniger lyrisch verklärt darstellt. Die Arie des Faust bringt er nicht so harsch und trotzdem mit männlich kräftigem Ton. Vor diesem Hintergrund liegt Joska Lethinen in Gesang und Spiel eindeutig vor Kwonsoo Jeon, der allerdings auch deutlich jünger ist.
Mit hoher aufblühender Stimme stellte Mezzosopranistin Milda Tubelytė die Hosenrolle Siebel hervorragend dar. Im Vergleich zu Milda Tubelytė zeigte Dorothea Spilger eine weit weniger männliche Darstellung. Ihr Siebel ist unbeholfen und macht die Schüchternheit dadurch fast noch begreiflicher. Hinsichtlich des Gesangs ist ihr eine warme Stimmfärbung zu attestieren, die der Hosenrolle angemessen ist. Insgesamt scheint sich Milda Tubelytė in der Rolle jedoch wohler zu fühlen als Dorothea Spilger. Milda Tubelytės männliche Attitüde ist glaubhaft und ihre Stimme passt zu Siebel besser als Dorothea Spilgers.
Maximilian Krummen zeigt als Valentin eine engagierte Darstellung und einen durchaus kräftigen lyrischen Bariton, der seine Stimme zuweilen unpassend einfärbt und versucht, dramatische Töne zu produzieren, die ihm noch nicht immer sicher und klangschön zur Verfügung stehen. Der Valentin von Zacchariah N. Kariithi, seit Beginn der Spielzeit Mitglied im Opernensemble des Staatstheater, ist ein noch ernstzunehmenderer Valentin, der natürlich zur dramatischen Steigerung fähig ist. Zudem zeichnet sich sein Bariton durch eine extreme Wärme aus, die dem Ohr schmeichelt. Beide Sänger offenbaren eine leichte Schwäche in der Tiefe. Bassist Jisang Ryu und Mezzosopranistin Zhenyi Hou zeigen in den kleineren Partien (Wagner und Marthe) gute Leistungen.
Regisseur Markus Bothe gibt dem Staatstheater-Chor eine tragende Rolle in der Oper. Dieser punktet darstellerisch und mit einer Klangpracht, die zeigt, wie exakt ihn Chordirektor Georg Menskes mit seiner Assistentin Johanna Motter einstudiert und motiviert hat. Das Staatsorchester musizierte mit hoher Qualität unter der engagierten Leitung von Christopher Lichtenstein (1. Kapellmeister), der die lyrischen wie dramatischen Passagen und die allgegenwärtige Dämonie herausarbeitete. Zuweilen gibt Lichtenstein „dem Affen zu viel Zucker“. Er müsste das Orchester im Sinne der Solisten und des Gesamtklangs an einigen Stellen etwas mehr zurücknehmen.
Kritiker: Sven-David Müller