Zum Tod von Albrecht Materne

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Foto: Privat

Von Gerhard Wysocki

„Das höchste Gut eines Menschen ist seine all umfassende Bildung; und seine größte Fähigkeit, sich des Erwerbs von Bildung zu stellen“ –

Albrecht Materne (24. Juni 1941 – 10. Januar 2024)

Am 10ten Januar des Jahres verstarb im Alter von 83 Jahren ein Mann, der sich für viele Menschen als Mentor, Freund und kritischer Lebensbegleiter engagierte: Albrecht Materne.

Auf die Welt gekommen während der Krieges und Zeit seines Lebens geprägt von dem Antrieb, sich mit der persönlichen und gesellschaftlichen Verantwortung von Menschen für das Ganze zu befassen, wurden ihm die Wurzeln seiner Berufung gleichsam in die Wiege gelegt.

Geboren im Frühsommer 1941, zwei Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion, verbrachte er die ersten Jahre in der brandenburgischen Niederlausitz, wo sein Vater als Mitglied der SA und NSDAP den Lehrerberuf ausübte. Über dieses Kapitel des Familienlebens herrschte Schweigen, teilweise verknüpft mit Familiengeschichtsmythen, aber auch Erzählungen über Verwandte, die im besetzten Russland das Grauen des Krieges mit Schrecken selbst erfahren hatten bevor sie niemals wieder nach Deutschland zurückkehren sollten.

Nach der Flucht seiner Eltern (ohne ihn) aus der sowjetischen Besatzungszone, nachdem sein Vater vom NKWD verhört worden war, gelangte er mit Hilfe seiner Tante ebenfalls in die britische Besatzungszone und fand sich im Herbst 1946 in einem Bunker der Stadt Braunschweig – zusammen mit seinen Eltern – wieder. Im Alter, in dem Kindern normalerweise die Einschulung bevorsteht, überlebte er völlig abgemagert und mit äußerster Not den Hungerwinter 1946/47 – eine Kindheit, die das Leben mental geprägt hat.

Albrecht wurde – so die Berufsbezeichnung – Lehrer für Geschichte an Gymnasien, nachdem er als Schüler die Möglichkeit erhielt, die Neuerkeröder Anstalten zu besuchen und zu erfahren, wie er selbst sagte „worin die Achtung gegenüber kranken Kindern besteht“. Das Selbstverständnis seines Elternhauses, das immer noch tief von nationalsozialistischen Gesellschaftsauffassungen durchtränkt war, zog den jungen Albrecht in innerlich zerreißende Konflikte, mit denen er sein Studium durchlief.

Zugleich war er aber auch eine Art „Anti-Lehrer“, denn er verstand sich – trotz kontinuierlich wachsender Bibliothek Zuhause – weniger als Wissensvermittler als vielmehr als Bildungsarbeiter, der zum einen nach dem noch fehlenden Wissen suchte, und zum anderen dafür ergründete, worin die Wissenslücken überhaupt bestanden, um notwendige Fragen zu stellen und die Verantwortung dafür in sein Leben integrieren zu können. Mit kritischer Reflexion und eigenwilliger Interpretationskraft wich Albrecht von den traditionellen Lehrplänen ab und ging zunehmend mit seinen Schülerinnen und Schülern auf Entdeckungsreisen, regte das eigene Hinterfragen an und setzte neue Impulse für eigene Forschungsaktivitäten. Wirksame Aufklärung war für ihn ohne eigenes Zutun kaum denkbar. Seine Konzepte und Aktionen, die oft mit dem Mainstream organisationsbezogener Konsensmeinungen nicht kompatibel waren, brachten ihm nicht selten Gegenwind bis zur Anfeindung in beruflichen wie auch außerberuflichen Vereinigungen ein.

Vor allem mit seinem Engagement in Salzgitter über die NS-Herrschaft, als Aufklärung über Gründe und Verantwortung von Terror und Zwangsarbeit noch in den 80er Jahren ein Politikum bildete, stellte Albrecht neue Weichen: Neu und motivierend für seine Schulklassen war, dass er nunmehr eher als ein Mentor tätig war, der verstanden hatte, dass er seinen Schülern nichts „beibringen“ konnte, sondern bei ihnen auch Motive anzuregen wusste, ihnen Werkzeuge für den Lernprozess an die Hand geben konnte und sie auf gemeinsame Antwortsuche mitnahm, während er mit seiner Erfahrung, seinem Wissen und seinen Bemühungen des ständigen Selbstlernens den Kompass zur Orientierung im Blick behielt. Gespräche mit Albrecht waren nie auf den Austausch von Meinungen begrenzt, sondern immer auch eine Phase des Innehaltens, neuer Überlegungen und Bedeutungsreflexionen für das eigene Handeln. Dabei zeichnete sich Albrechts Herangehensweise durch Anteilnahme und Genauigkeit aus, und zwar sowohl durch die Erforschung von konkreten Ereignissen möglichst genau vor Ort als auch die Deutung derselben im systemischen Gesamtzusammenhang. Das Einstehen für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und eine völkerverständigende Empathie waren für ihn ohne eine umfassende humanistisch-anthropologische Bildung nicht denkbar.

Gerade in der heutigen Zeit, mit den heutigen Konflikten und Problemen der Millionen Hungernden in der Welt, der mittlerweile stark lebenseinschränkenden Umweltzerstörungen und der für viele Zeitgenossen resignativen Fassungslosigkeit über Kriege, die viele nach dem Schrecken des Nationalsozialismus für vermeidbar hielten, wird deutlich, dass es solcher Menschen wie Albrecht bedarf, die in der Lage sind, solche Orientierungen, ob jungen Menschen oder Erwachsenen, zu geben. Denn Albrecht beschränkte sich nicht auf Erkenntnisse, die – einmal gewonnen – nunmehr als „Rezept“ des aufgeklärten Verhaltens dienten, sondern stellte aus Erkenntnissen heraus neue Fragen, weil die Befassung mit Geschichte nur sinnvoll ist, wenn sie dabei hilft, unsere Fragen von heute zu beantworten – nicht durch Gleichsetzung, sondern durch Vergleichung.

Persönliche Erfahrungen und Lebensentwürfe nutzte er als miteinander verbindende Elemente, um eine gemeinsame Basis dafür herzustellen, um die persönliche und gemeinsame Verantwortung gegen jede Form von rassistischen, antisemitischen, bellizistischen oder sonstigen menschenfeindlichen Einstellungen zu verdeutlichen, die uns Menschen in unseren jeweiligen „Lebenssystemen“ durch Macht, Ideologien, ökonomischen Interessen und politischen Fehlentscheidungen sowie der Illusion des eigenen Davonkommens an einem friedvollen und gerechten Zusammenleben behindern. Dafür liebte er einen lebendig offenen Diskursraum, der sich nicht mit dem einmal Erreichten zufriedengab, sondern der die heute immer noch ungelösten Themen und Probleme, vor allem aus der Kontextgebundenheit des Vergangenen und der historisch-gesellschaftlich komplexen und widersprüchlichen Dynamik von Verfolger- und Verfolgtenbeziehungen, ohne geistige Verengung als – wie Hannah Arendt formulierte – Denken ohne Geländer, zur Sprache brachte.

In diesem Sinne besteht der Dank für die gemeinsamen Gespräche und Arbeiten mit Albrecht darin, dafür zu sorgen, dass wir solche Diskursräume, wie wir sie mit Albrecht gefüllt haben, in ihrer lebendigen Denkradikalität offen halten.

Gerhard Wysocki, 24. Jan 2025

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