Wenn die Gewalt an der europäischen Grenzen plötzlich persönlich erfahrbar wird …

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Foto: Matthias Winkelmann, "Reich mir deine Hand", CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Quelle www.piqs.de


Manchmal werden Dinge, die einem zuvor nur irgendwie abstrakt und theoretisch beschäftigen, ganz plötzlich konkret. Mir, Braunschweiger, derzeit Student in Bremen, ging es am letzten Wochenende so, als auf meiner Eurolines-Busfahrt in der Nähe der deutschen Grenze eine Person ohne Papiere verhaftet wurde. Europas Flüchtlingspolitik, die mittlerweile täglich in erschreckenden Nachrichtenbildern zu sehen ist, wurde für mich fühlbar – und zwar in Form von Wut und Ohnmacht.

Die Fernsehbilder und Nachrichten vom politischen Aufbruch der Menschen in Nordafrika haben mich berührt. Auf einmal scheint die Veränderung eines jahrzehntelang ertragenen Zustands der Unterdrückung möglich. Die Jugendlichen in Tunesien, Ägypten, Libyen verlangen ein Leben ohne Armut und in Würde. Sie sind bereit dafür auf die Straße zu gehen, sich selbst zu organisieren und nehmen in Kauf, dafür von Polizei und Militär verletzt oder getötet zu werden.

Nicht nur in den arabischen Staaten, auch in Europa kündigt sich eine Neubewertung der politischen Institutionen an: Anlass dafür sind Flüchtlinge, die seit Jahren schon über gefährliche Routen an Europas Südgrenzen Zugang zum materiellen Reichtum und der relativen Sicherheit dieses Kontinents suchen. An den nach dem Umsturz in Tunesien vorübergehend offenen Seegrenzen rückt der Umgang der EU mit diesen Menschen ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Das Abdrängen von Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer und die langjährige Kooperation mit Diktatoren, um den Aufbruch dieser Menschen zu verhindern, machen dabei deutlich: Europa ist nicht die moralisch einwandfreie Weltmacht, die im Gegensatz zu den USA mit Entwicklungspolitik und Worten statt Kriegen den Ungleichheiten dieser Welt begegnet. Europas Wohlstand wird mit Gewalt verteidigt.

Zum Ende meines Urlaubs wurde ich vor Kurzem von einer Gelegenheit überrumpelt, diesem Unrecht zu widersprechen. Auf einer Busfahrt von Paris nach Bremen zeigte sich das europäische Grenzregime in Gestalt zweier Polizisten, die nachts unseren Reisebus zum Anhalten auf dem Seitenstreifen einer Autobahn aufforderten. Das Ergebnis einer Passkontrolle der übermüdeten Passagiere unterschiedlicher Sprachen und Passfarben: Ein junger Mann aus der vorletzten Reihe wird abgeführt – „ein Afghane“ wie ein Polizist seinem Kollegen lakonisch mitteilt. Einer der Beamten durchsucht kurz den Sitzplatz des Jungen, bereitwillig macht die Nachbarin Platz. Kaum haben die drei den Bus verlassen, schließen sich die Türen. Wir fahren weiter.

Auf meine Frage erklärt mir der Busfahrer, eine solche Situation habe er schon öfter erlebt. Die Polizisten sagten ihm: Der junge Mensch, der sein Alter mit 13 angab, wurde festgenommen, da er keine Papiere besitzt. Angesichts des Zeitdrucks im Linienverkehr ist das kein Grund die Fahrt länger, als nötig zu unterbrechen. Wut über das Unrecht, meinem mir unbekannten Reisegefährten nicht wie mich die „offene“ Schengengrenze passieren zu lassen, steigt in mir auf. Und vor allem ein Gefühl der Ohnmacht. Die Verhaftung bleibt im Bus unkommentiert. Die Möglichkeit etwas über das Schicksal des Verhafteten zu erfahren, schwindet im Sekundentakt, während sich der Bus vom Halteort entfernt.

Was hätte es bewirkt, wäre ich von meinem Platz aufgestanden? Eine Nachfrage an die Polizisten, ein Protest mit Worten oder ein Verlassen des Busses, um den Jungen nicht alleine zu lassen? Ich möchte meine Antwort mithilfe einiger Gedanken des französischen Philosophen Jacques Rancières geben. Denn in seinem Werk spielen die Begriffe „Polizei“ und „Politik“ eine zentrale Rolle.

Für Rancière beschreibt die so genannte „Ordnung der Polizei“ eine symbolische Organisation unserer Gesellschaft, die festlegt, welche Aussagen und Handlungen im Rahmen des bestehenden Systems möglich sind. Die nur scheinbar „politische“ Forderung eines Politikers nach fairen Asylverfahren für die in Italien ankommenden Flüchtlinge gehört ebenso dazu, wie die Rechtfertigung des Frontex-Einsatzes mit Kriegsschiffen im Mittelmeer. Wirkliche „Politik“ im Sinne Rancières sprengt jedoch diesen Rahmen: Die Flüchtlinge, die in der bisherigen Diskussion nur Objekt der Politik sind, würden auf einmal als Gleiche anerkannt. Ihre Probleme wären Gegenstand des politischen Diskurses, in dem ihre Forderungen und Argumente gehört werden.

In diesem Sinne hätte Solidarität mit dem Afghanen einen solchen politischen Moment bedeuten können. Ein kurzes Gespräch mit dem Verhafteten, die Kritik der Verhaftung hörbar für die Passagiere im Bus, hätte gezeigt: Mir ist unser gleiches Recht zu Reisen wichtiger, als das „Recht“ einer politischen Gemeinschaft, deren Pass nur zufällig die Polizisten und ich, nicht jedoch der Junge teilen. Ihm gehört meine Solidarität, an seinem Widerstand gegen das europäische Grenzregime will ich teilhaben und nicht an einer unmenschlichen Migrationspolitik, die nicht in meinem Namen geschieht. Vor einer Verhaftung hätte das den Jungen nicht bewahrt. Doch selbst die nordafrikanischen Revolutionen zeigen: Eine politische Bewegung setzt sich aus vielen kleinen Handlungen zusammen – von Einzelnen wie von Massen.

Den Mut und die Entschlossenheit für eine solche Tat haben weder ich noch meine Mitreisenden aufgebracht. Die Unsicherheit angesichts des plötzlichen Unrechts vor unseren Augen und wohl auch der Respekt vor dem schnellen, routinierten und bestimmten Vorgehen der Uniformträger waren zu groß. Die in Nordafrika losgetretene Auseinandersetzung um Freiheit und Demokratie ist jedoch immer noch im Gange. Für mich gilt es darin für ein bisher unverwirklichtes Prinzip einzutreten: für die Bewegungsfreiheit und ein Leben in Würde von allen Menschen!

Von Ole Hilbrich

 

Foto: Matthias Winkelmann, „Reich mir deine Hand“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de  Quelle www.piqs.de

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