Uwe Timm im Kolleg: Eine Reise in die Erinnerung

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Uwe Timm an alter Wirkungsstätte: Zwischen 1961 und 1963 machte der Romancier und Literat am Braunschweig-Kolleg sein Abitur. Foto: Marcus von Bucholz

In den Sechziger Jahren machte er am Braunschweig-Kolleg sein Abitur, jetzt kehrte Uwe Timm an alte Wirkungsstätte zurück: Der mittlerweile promovierte Autor, Drehbuchschreiber, literarische Intellektuelle, vielfach Ausgezeichnete (u.a. Heinrich-Böll-Preis) und Romancier las vor ausverkauftem Saal aus seinem 2017 entstandenen Werk „Ikarien“, einem zu Zeiten seiner frühen Kindheit im Deutschland nach dem Zusammenbruch des 3. Reichs spielenden Werks. Es kommen US-Offiziere und die gebeutelten kleinen Leute nach dem Zusammenbruch vor, Kriegsinvaliden, Kriegshelden wie der berühmt-berüchtigte US-General George Patton und – und damit nähert sich Timm dem Kern seines Werks – der „Eugeniker“ Dr. Alfred Plötz, der 1936 sogar Kandidat für den Nobelpreis war. Dessen heute menschenverachtend erscheinende Idee: Aus dem „Glauben an eine perfekte Gesellschaft heraus“ hat Plötz lange Versuchsreihen zur Vererbungslehre gemacht, mit denen der früher überzeugte Kommunist zum Handlanger und Helfershelfer der nationalsozialistischen Wahnideologie des Rassenhasses wurde.

Ausverkauft bis auf den letzten Platz: Rund 180 Gäste wohnten der Lesung von Uwe Timm und standen für Autogramme an. Foto: Marcus von Bucholz

Dieser Ploetz, und das lässt Timm nicht los, war Teil seiner Familie, nämlich der Großvater seiner Ehefrau Dagmar Ploetz, die als Übersetzern und Autorin mit Übertragungen und zwei Biografien über Gabriel García Márquez hervortrat. „Wie kam es, dass der Großvater meiner Frau zu einem der Vorgänger des Massenmords wurde?“, quält Timm, und er gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Als brutal präziser Beobachter einer Zeit, die er selbst aus jahrzehntelengem Quellenstudium und vom Hörensagen kennt, entwirft Timm Bilder von Menschen, die er nie getroffen hat. Das geschieht analytisch, facettenreich, in fast endlosen Gedankenspielen. Direkt ohne direkte Rede (Timm kommt fast ohne Dialoge aus), in der Beschreibung von Reflexionen, mit nuancierten Bewertungen (da bricht dann der alte Studentenrevolutionär und ehemalige Freund von Benno Ohnesorg, den er auf dem Braunschweig Kolleg kennen lernte, aus dem Autor hervor).

Die Lesung mit Uwe Timm erfolgte auf Einladung der Buchhandlung Graff im Rahmen der Reihe „BS liest“. Marcus von Bucholz

Das Buch „Ikarien“ sei eine „Reise in meine Erinnerung, meine Kindheit, es war eine Utopie“ gesteht Timm seinem Braunschweiger Publikum. Und er spürt dem Bruch in der deutschen Gesellschaft nach, als 1945 „diese Pflicht, dieses Heldentum der Gesellschaft unterbrochen wurde.“

Nicht wütend und doktrinär, sondern meisterhaft beobachtend in der Erinnerung eines damaligen Kindes: „Ich denke noch diese kratzigen Uniformen der heimgekehrten Männer, weshalb ich mich immer zu den Frauen geflüchtet habe.“ Eine Frau mit Kinderwagen, in dem kein Baby lag sondern eine Fuhre Stroh, warf für den jungen Timm im zusammengebrochenen Deutschland die Frage auf: „Hält die sich auf ihrem Balkon vielleicht Kaninchen?“

Die Erinnerung an die Nazizeit, den Krieg, die braune Willkür wurde von vielen seiner Kollegen beschrieben und erklärt. In „Ikarien“ reist Timm in ein Land, das wir heute kaum kennen und fast verdrängt haben: Das besiegte Deutschland vor der Bundesrepublik mit seinen gebrochenen Figuren, tragischen Schicksalen, überlebenden Tätern und fassungslosen Befreiern. Ikarien. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln, ISBN 978-3-462-05048-6.

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