UN-Diplomat von der Schulenburg: „Frieden jetzt! Bald könnte es zu spät sein.“

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Foto: Wall Street international magazine. Economy & Politics

Originaltext in Englisch

Übersetzung des Originaltextes in Deutsch

Zusammenfassung

Mehr als 34 Jahre war Michael von der Schulenburg als Diplomat bei den Vereinten Nationen tätig, für kurze Zeit auch bei der OSZE. Das verhalf ihm zu einem offenbar recht selten anzutreffenden Blick auf Ganze, auf die Verhältnisse zwischen allen Staaten dieser Erde. Er hat in vielen Konflikten erfahren, dass diese Staaten höchst unterschiedliche Interessen und Sichtweisen haben, die man kennen und im Blick behalten muss, wenn man nach Lösungen sucht. In einem am Montag veröffentlichten Artikel analysiert er die aktuelle Lage im Ukraine – Krieg und in den direkt und indirekt beteiligten Ländern. Er warnt eindringlich davor, dass dieser Krieg zu einer Schlacht um die Vorherrschaft zwischen den Nuklearmächten USA, Russland und China führen kann. Gleichzeitig setzt er Hoffnung auf den ukrainischen Präsidenten Selenski, der ungeachtet des brutalen Krieges und ohne die Vorbedingung eines Waffenstillstandes Verhandlungen mit Russland führt, um den Krieg zu beenden.

Russland

Russland hat sich in mehrfacher Hinsicht verschätzt, als es sich zum völkerrechtswidrigen Krieg entschloss: es konnte keinen schnellen militärischen Sieg erringen und vor allem wurden die russischen Truppen nirgendwo in der Ukraine als Befreier willkommen geheißen – anders als zumindest für die Gebiete mit russischsprachiger Mehrheit erwartet (abgesehen von den Gebieten der russischen Separatisten). Die offenbar schon jetzt erheblichen Verluste der russischen Streitkräfte würden sich enorm erhöhen, falls man versuchte, Kiew und andere große Städte militärisch einzunehmen. Das ganze Land militärisch zu unterwerfen und gegen einen Guerillakrieg auf Dauer besetzt zu halten erscheint aber völlig unrealistisch. Russland müsste also im eigenen Interesse einen Ausweg suchen.

Ukraine

Obwohl die Ukraine schon jetzt so etwas wie einen moralischen Sieg errungen hat, ist es unwahrscheinlich, dass das auch zu einem militärischen Sieg führen wird. Nicht nur, weil Russland militärisch ungleich stärker ist, sondern weil sich die russische Führung in eine Lage begeben hat, in der eine Niederlage bedeuten würde, dass sie alles verlieren würde. Russland wird also eher den Krieg radikalisieren als nachzugeben. Schulenburg nennt das Beispiel des Bombenkrieges der NATO gegen Serbien 1999: die habe 12 Wochen gebraucht, um das viel kleinere Serbien in die Unterwerfung zu bomben. Und: „Großmächte geben selten auf.“ Die Zahl der bisherigen Opfer und der Umfang der bisher zu beklagenden Zerstörungen durch die russische Kriegsführung würde sich immer stärker zunehmend erhöhen. Um diese Entwicklung zu vermeiden, müsse die Ukraine nach einem Ausweg durch einen Verhandlungsfrieden suchen.

Ist Selenski der Mann, der den Frieden bringen kann?

Präsident Selenski verhandelt mit Russland über einen 15-Punkte-Plan. Er stellt in Aussicht, dass die Ukraine die Neutralität erklärt, also Abstand nimmt vom Ziel der NATO-Mitgliedschaft. Diese Neutralität müsse von anderen Mächten militärisch garantiert werden. Aus russischer Sicht könnte das den Weg bahnen zu einem Rückzug, der der eigenen Bevölkerung als – wenn auch begrenzter – Erfolg verkauft werden könnte. Schließlich hat man die Bedrohung durch eine von der Ukraine angestrebte NATO – Mitgliedschaft immer in den Mittelpunkt der eigenen Motive gestellt. Schulenburg weist darauf hin, dass Selenski in den Wahlen immerhin in den russischsprachigen Gebieten stärker unterstützt wurde als im Landesdurchschnitt. Im Moment habe er nach Umfragen eine Zustimmung von 90 Prozent der Bevölkerung. Einen Friedensvertrag will er von einer Volksabstimmung abhängig machen. Schulenburg plädiert dafür, Selenski in diesen Bestrebungen seitens des Westens zu unterstützen. Denn es sei mit dem Widerstand vieler Hardliner zu rechnen – innerhalb wie außerhalb des Landes.

Und der Westen?

Schulenburg schließt nicht aus, dass die USA im Ukraine – Krieg eine Gelegenheit sähen, Russland zu besiegen und zu erniedrigen. Er hält das aber für extrem gefährlich. Denn Russland sei ökonomisch schwach – was sich wegen der Sanktionen des Westens noch extrem verschärfen wird –, aber als Atommacht stark. Eine solche Macht in die Ecke drängen zu wollen, kann schwere und vor allem nicht vorhersehbare und berechenbare Folgen haben.

Durch immer stärkere Waffenlieferungen kann der Westen ohne Zweifel die Zahlen der Opfer und Verluste auf russischer Seite in die Höhe treiben, das würde den Krieg aber auch für die Ukrainer nur noch tödlicher machen. Es würde den Krieg nicht mit einem ukrainischen Sieg beenden können, sondern im Gegenteil seine Beendigung immer weiter erschweren, weil es mit einer Radikalisierung und Brutalisierung des Kriegsgeschehens Hand in Hand ginge. All das spräche dafür, nun auch seitens des Westens alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Krieg durch einen Verhandlungsfrieden zu beenden.

Die Gefahr eines Weltkrieges

Schulenburg weist nüchtern darauf hin, dass der Ukraine-Krieg in einer Zeit stattfindet, in der alle Verträge zur Rüstungskontrolle und alle vertrauensbildenden Maßnahmen nicht mehr existieren, in der seit Jahren Spannungen und Feindseligkeiten die Beziehungen der Mächte USA, Russland und China unterhöhlen. Gleichzeitig hätten die modernen Waffensysteme „furchterregende Fortschritte“ gemacht. Wenn auch „nur“ 100 von insgesamt 12.000 atomaren Sprengköpfen detonierten, würde das einen nuklearen Winter bewirken, der das Leben auf der Erde zerstörte. Durch den Einsatz von Systemen künstlicher Intelligenz sei es immer schwerer geworden, die Folgen der fehlgedeuteten Interpretation eines angeblichen Angriffes noch durch menschliches Eingreifen aufzuhalten.

Und die Gefahr einer unkontrollierbaren Entwicklung wachse mit jedem Tag. Schon fordert der polnische Präsident das Eingreifen der NATO. Der mit wachsender Brutalisierung fortgeführte Krieg würde den Druck auf westliche Politiker erhöhen, sich immer weiter in den Konflikt hineinziehen zu lassen.

Konsequenz: alle Seiten sollten daran arbeiten, den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden – und zwar im jeweiligen eigenen Interesse.

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