Jeder kennt die Weihnachtsgeschichte. Maria und Josef müssen sich zur Volkszählung in Josefs Heimat begeben. Die Geburt Jesu steht bevor, die beiden finden aber nur Unterkunft im Stall einer Herberge, so dass für den kleinen Jesus eine Futterkrippe ausreichen muss. Würden die beiden heute im Gazastreifen leben, wäre ihre Lage unvergleichlich schlechter – schlimmer noch, sie wäre so gut wie aussichtslos.
Denn im Gazastreifen mussten jetzt schon 80 Prozent der Bewohner ihre Häuser erzwungenermaßen verlassen. Weit mehr als eine Million Menschen sind vor den massiven Bombardierungen der israelischen Armee in den Süden geflohen, die meisten haben sich in UN-Einrichtungen geflüchtet. Die sind natürlich hoffnungslos überfüllt, so dass viele Flüchtlinge unter freiem Himmel oder in Autos schlafen. Es fehlt an Brennstoffen, so dass manche sogar dazu übergegangen sind, Olivenbäume zu fällen, um Feuer machen zu können. Immer mehr Mütter haben Schwierigkeiten, ihre Neugeborenen zu ernähren. Viele Eltern schafften es auch kaum noch, ihren Kindern auch nur eine Mahlzeit am Tag zu bieten.
„Unbeschreibliches Ausmaß der Zerstörung“
Da die hygienischen Verhältnisse katastrophal sind, nehmen ansteckende Krankheiten zu, wie etwa Durchfall, Atemwegs- oder Hautinfektionen. Die Vertreterin einer Hilfsorganisation spricht nüchtern „von einem Nährboden für Infektionen“. Viele Menschen hätten seit Tagen unbehandelte Wunden, weil sie sich nicht auf die Straße trauten. Maden in solchen Wunden werden öfter festgestellt, oft kann nur noch eine Amputation Schlimmeres verhindern. Ein Team des Internationalen Roten Kreuzes operiere 15 Stunden am Tag. Und überall stellen Vertreter der Hilfsorganisationen, die während der Feuerpause in den Gazastreifen gelangt sind, ein „unbeschreibliches Ausmaß der Zerstörung“ fest. Zahlreiche unbegleitete Kinder seien gesichtet worden, die ihre Eltern durch Bombardierungen verloren hätten oder im Kriegschaos von ihnen getrennt worden seien. Selbst in Einrichtungen der UN sei man nicht sicher vor Bombenangriffen, so seien 218 Flüchtlingen Angriffen auf UN-Schulen zum Opfer gefallen. Und auch im tiefsten Süden, bei Rafah, an der Grenze zu Ägypten, seien mehr als zwei Dutzend Menschen durch israelische Luftangriffe zu Tode gekommen.
Die Flüchtlinge konnten oft kaum etwas mitnehmen. Selbst während der Feuerpause wurden sie nach verschiedenen Berichten durch Beschießen daran gehindert, zurück in den Norden zu gehen. Nun, nach Ende dieser Pause, wird auch der Süden angegriffen. Und den Gazastreifen zu verlassen, ist unmöglich.
All diese Informationen wurden von Christian Meier, Korrespondent der FAZ in Tel Aviv zusammengestellt, der auf viele Interviews und Gespräche mit Hilfsorganisationen zurückgreifen kann – deren Vertreter übrigens meist aus westlichen Ländern kommen und der manipulativen Information unverdächtig sind (Quelle: FAZ vom 1.12.23).
Gegen die so beschriebene Lage wirkt die Weihnachtsgeschichte von Bethlehems Stall fast wie ein romantisches Märchen.
Soll der Gazastreifen flächendeckend zerstört und von Menschen entleert werden?
Meier geht nun in einem Artikel vom 4.12. noch einen Schritt weiter. Nach seiner Information glauben Vertreter der UN, dass die Menschen durch die israelische Armee immer weiter nach Süden vertrieben werden sollen, wo sie dann bei immer größer werdendem Druck versuchen würden, über die Grenze nach Ägypten zu fliehen. Meier weist auf Medienberichte hin, nach denen der israelische Ministerpräsident schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn westliche Länder dazu bewegen wollte, Druck auf Ägypten auszuüben, die Flüchtlinge aufzunehmen. Auch die Tatsache, dass die amerikanische Regierung inzwischen mehrmals öffentlich betont hat, dass sie eine Vertreibung der Bewohner des Gazastreifens ablehnt, spricht dafür, dass dieser Verdacht nicht abwegig ist. Meier wörtlich dazu:
„Die Vorstellung, dass die Armee den Gazastreifen so flächendeckend zerstört und von seinen als feindlich empfundenen Bewohnern entleert, dass das Gebiet danach als `Parkplatz` genutzt werden kann, ist im israelischen Diskurs zu einer feststehenden Wendung geworden.“
Äußerungen von Ministerpräsident Netanjahu, man werde Gaza zu einer „Insel aus Ruinen machen“, oder vom Verteidigungsminister, die Bewohner Gazas seien Tiermenschen, die die Hölle wollen und die sie nun bekämen, weisen in dieselbe Richtung (siehe Artikel „Ist Joe Biden jetzt auch Antisemit?“, Braunschweig-Spiegel, 4.11.). Auch die Kriegführung der israelischen Armee, die ganze Stadtviertel komplett zerstört wie etwa bei Beit Hanoun und die auch vor Schulen und Krankenhäusern nicht Halt macht, wäre so zu erklären. Und so zynisch es klingt: tatsächlich wäre die Hamas komplett besiegt, wenn der Gazastreifen radikal entvölkert würde. Man müsste dann nur dafür sorgen, dass die Vertriebenen nicht mehr zurückkehren können. Korrespondent Meier weist darauf hin, dass die Mehrheit der Bewohner des Gazastreifens aus Nachkommen von Flüchtlingen und Vertriebenen des Krieges von 1948 besteht. Und dass denen die Rückkehr in ihre Heimatorte durch das neugegründete Israel verwehrt worden sei, sei bei den Palästinensern bis zum heutigen Tag nicht vergessen.
Mahnungen der USA werden schärfer – aber das reicht nicht
Maria und Josef konnten, nachdem sie die Prozedur der Zählung hinter sich gebracht hatten, wieder in ihre Heimat zurückkehren und dort Jesus großziehen. Die Zukunft vieler palästinensischer Familien wird völlig anders aussehen, wenn die israelische Regierung weiterhin glaubt, bei der legitimen Verteidigung Israels das Kriegsvölkerrecht ignorieren zu können. Dessen Einhaltung fordern auch hohe Repräsentanten der USA wie Joe Biden oder Lloyd Austin. Sollten sie das nicht nur aus innenpolitischen Gründen äußern, haben sie es in der Hand, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Denn sie sind der wichtigste Unterstützer, auf den Israel angewiesen ist. Bisher allerdings scheinen den Worten noch keine Taten zu folgen.