Den Artikel von Dr. Leo Ensel möchte ich hier veröffentlichen, weil er mehr Informationen bringt, als das übliche, das wir bei uns lesen können – z.B., dass die bedeutendere Opposition zu Lukaschenko gar nicht erst zur Wahl zugelassen wurde.
Ensel ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Er nimmt bei der Kritik der weißrussischen Regierung kein Blatt vor den Mund. Er kritisiert aber auch die westliche Position und nimmt eine neutrale bis leicht pro-russische Position ein. (b.k.)
Leo Ensel:
Vor circa 15 Jahren erzählte mir eine gute belarussische Freundin in Minsk mal folgenden Witz: Ein Russe, ein Ukrainer und ein Weißrusse betreten ein Restaurant und setzen sich an den Tisch – genau auf einen Nagel, der in allen Stühlen im Sitzpolster versteckt war. Wie reagieren die drei? Der Russe geht zum Wirt und haut ihm die Fresse nach hinten. Der Ukrainer zieht den Nagel aus dem Polster und verkauft ihn. Und der Weißrusse bleibt mit unbewegter Mine sitzen und denkt sich: „Es ist ja ein bisschen unbequem, aber vielleicht muss es ja so sein!“
Meine Freundin Tanja wollte mir damit die belarussische Mentalität erklären: „Wir sind bereit, sehr viel Unbequemlichkeit zu ertragen, wenn die Verhältnisse wenigstens einigermaßen stabil bleiben und es nicht noch schlimmer kommt!“
Zwischen West und Ost
Weißrussland, neuneinhalb Millionen Einwohner, an der Nahtstelle zwischen West und Ost, ein Land mit bewegter Geschichte. Seit Ende des ersten Jahrtausends Teil des Kiewer Rus, gehörte es vom 14. bis Ende des 18. Jahrhunderts zum Königreich Polen-Litauen, bevor es im Zuge der polnischen Teilungen ins zaristischen Russland eingegliedert wurde. Nach einer sehr kurzen Episode der Unabhängigkeit zwischen 1918 und 1920 war es als Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik – wie die Ukraine und Moldawien mit wechselnden Grenzen nach Westen – über 70 Jahre Teil der Sowjetunion.
Seit 1992 ein selbständiger Staat und seit 26 Jahren vom ehemaligen Sowchosleiter Alexander Lukaschenko mit eiserner Hand regiert. Durchmarschgebiet von Napoleons Grande Armée und Hitlers Wehrmacht auf dem Wege nach Moskau. Ort von Napoleons größtem Desaster, als sich Ende November 1812 auf dem Rückzug beim Überqueren zweier Behelfsbrücken bei Borissow Hunderte Soldaten in einer Massenpanik gegenseitig tottrampelten und im eisigen Wasser der Beresina versanken.
Im II. Weltkrieg zahlte das Land mit einem Viertel seiner Bevölkerung den größten Blutzoll von allen Sowjetrepubliken. Zugleich war der Partisanenkampf nirgends so hartnäckig wie hier. Wehrmacht und Einsatzgruppen der SS hinterließen eine Spur der Verwüstung. Zwischen 1942 und 1944 wurden im Rahmen des „Antipartisanenkampfes“ Hunderte von Dörfern unter logistischer und tatkräftiger Mithilfe der Wehrmacht von den Einsatzgruppen der SS abgefackelt – inklusive der Bevölkerung, die man zuvor in die Dorfscheune oder -kirche getrieben hatte. (Weiter mit Leo Ensel auf RT)