Energie: IPPNW-Brief an die Bundestagsabgeordneten

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Gestern ging die folgende Email an die gut 600, teilweise neuen Abgeordneten des Deutschen Bundestages:

Sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst herzlichen Glückwunsch zum Einzug in den Deutschen Bundestag. In dieser Funktion tragen Sie eine schwere Verantwortung. Dies nicht primär nur für Ihre Partei, sondern für die gesamte Bevölkerung.

In den vergangenen Monaten wurde die Energiewende in ein negatives Licht gerückt. Leicht konnte man den Eindruck gewinnen, als dürfe man es beim Tempo des Umstiegs auf erneuerbare Energien nicht übertreiben, um die Stromkunden nicht zu überfordern. Sie wissen, dass dieses Bild einer sachlichen Analyse der volkswirtschaftlichen Effekte der Energiewende nicht Stand hält.

 

Norbert Röttgen hatte in einer Grundsatzrede am 11. Februar 2010 zutreffend ausgeführt, dass die dezentrale Nutzung erneuerbarer Energien zu „einer sicheren, preiswürdigen Versorgung der Verbraucher, ob Privathaushalte oder Industrie, mit Strom“ führen wird. Die dezentrale Energiewende sei gegenüber einer zentralen Energiewirtschaft „das ökonomisch aussichtsreichere Projekt“. Laut Röttgen handelt es sich um ein „Fortschrittskonzept“, welches zu einer „grundlegenden Modernisierung unserer Volkswirtschaft“ führt. Die Erneuerung und Transformation der Energiewirtschaft sei „ökonomisch geboten, weil Investitionen in Effizienztechnologien und erneuerbare Energien mit enormen, auf heimischer Wertschöpfung beruhenden Wachstumschancen verbunden sind. (…) Die Umstellung unserer Energieversorgung auf erneuerbare Energien ist eine fundamentale, aussichtsreiche, ja die konkrete Wachstumsstrategie für unser Land.“

Dirk Müller, aus dem Fernsehen auch als „Mr. Dax“ bekannt, schreibt in seinem aktuellen Buch „Showdown“, dass Infrastruktur-Investitionen in dezentrale erneuerbare Energien „einen nie da gewesenen Wirtschaftsboom in Europa auslösen“ würden. „Das Geld wird hier vor Ort ausgegeben und dreht sich gleich mehrfach – wie beim Aufbau der Eisenbahnlinien oder Interstate Highways in den USA.“ In den USA könne man derzeit beobachten, dass die dort angestrebte „Energieautarkie“ eine wesentliche Grundlage für eine Re-Industrialisierung sei. Vor diesem Hintergrund plädiert Müller für die dezentrale Nutzung heimischer erneuerbarer Energien als „konjunkturelle Beschleuniger“.

„2010 wurden dank der Erneuerbaren Energien fossile Energieimporte im Wert von insgesamt rund 6 Milliarden Euro vermieden“, heißt es in einem Bericht der Bundesregierung über die enormen volkswirtschaftlich positiven Auswirkungen der Energiewende. Derzeit fließen Jahr für Jahr noch immer rund 90 Milliarden Euro für Energieimporte ins Ausland. Mit der Abkehr von diesen Energieimporten durch die Nutzung erneuerbarer Energien kann also Schritt für Schritt ein finanzielles Potenzial von 90 Milliarden Euro pro Jahr mobilisiert werden, welches der deutschen Volkswirtschaft zugute kommen kann. Über einen Zeitraum von nur 11 Jahren geht es hierbei um eine Größenordnung von 1000 Milliarden bzw. eine Billion Euro.

Der nach Fukushima partei- und fraktionsübergreifend verfolgte Weg des Atomausstiegs und der Energiewende ist aktuell das aussichtsreichste Konjunkturprogramm und dient dem traditionellen Ziel der deutschen Politik, „Wohlstand für alle“ zu schaffen.

Dass die großen Energieversorger versuchen, dies zu negieren und ein Zerrbild von den ökonomischen Effekten zu zeichnen, ist aus ihrer Sicht verständlich. Sie verfolgen ihre Partikularinteressen in scharfer Konkurrenz zu den Interessen der Gesamtbevölkerung und zu Lasten der Volkswirtschaft insgesamt.

Sie sind als Abgeordnete des Deutschen Bundestages dem Gemeinwohl verpflichtet. Sie wissen, wie wichtig es für die investitionsbereiten Bürgerinnen und Bürger, für die Kommunen, für das Handwerk und für die Unternehmen ist, in der Energiepolitik endlich langfristig verlässliche Rahmenbedingungen und Planungssicherheit zu schaffen.

Man kann nicht nach Fukushima in den Jahren 2011 und 2012 einhellig täglich die Energiewende proklamieren, um dann 2013 – aufgrund der Kampagne einiger Unternehmen – wieder einen Rückzieher zu machen. Unsere Gesellschaft hat nach jahrzehntelangen Diskussionen in der Energiepolitik endlich zusammengefunden und Deutschland sollte in großer Einigkeit klar Kurs halten. Denn vor Ort in den Kommunen und in den Bundesländern hat man erkannt und auch praktisch erlebt: Die dezentrale Energiewende nützt durch ihre direkten sowie indirekten Wohlstands- und Beschäftigungseffekte uns allen.

Und selbstverständlich sorgt sie für eine preiswerte Versorgung mit Energie, weil die Gewinnerwartungen einer dezentralen Energiewirtschaft sehr viel geringer sind als die der vier Großkonzerne.

Die Richtungsentscheidung in der Energiepolitik hat auch erhebliche außenpolitische Implikationen (Broschüre). Analysten zufolge tobt weltweit ein harter Wirtschaftskrieg um die Kontrolle über die konventionellen Energieressourcen, Handelswege und Absatzmärkte. „Neue“ Erdgasfunde im östlichen Mittelmeer, u.a. auch in den Hoheitsgewässern von Griechenland, Zypern und Syrien, Ölfelder und Uranvorkommen in Afrika, konkurrierende Pipeline-Pläne im Nahen und Mittleren Osten begünstigen Konflikte und Kriege.
Dass dieser Wirtschaftskrieg inzwischen auch Europa erreicht hat, kann man bei Dirk Müller im Kapitel „Griechisches Gas und die Folgen“ nachlesen.

Die enorme Abhängigkeit Deutschlands von Energieimporten führte schon vor Jahren dazu, dass die militärische Sicherung von Energierohstoffen, Handelswegen und Märkten als Aufgabe der Bundeswehr in den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ verankert wurde.

Der seit 2011 partei- und fraktionsübergreifend verfolgte Weg der Energiewende mit der Nutzung heimischer erneuerbarer Energien bietet perspektivisch einen Ausweg aus den nicht enden wollenden globalen Konflikten um die Kontrolle über Energiequellen und Energie-Transportwege.

Denn die Energiewende in Deutschland hat eine starke Ausstrahlung auf den Rest der Welt und begünstigt auch in anderen Ländern die dort vielfach laufenden Prozesse einer Umorierentierung auf heimische erneuerbare Energien. In dem Maße, in dem weltweit Länder immer weniger auf Energieimporte angewiesen sein werden, wird der globale Kampf um die Kontrolle über Erdöl, Erdgas und Pipelines zwangsläufig an Bedeutung verlieren.

Die Nutzung heimischer erneuerbarer Energien entzieht der globalen Auseinandersetzung um Energie schlichtweg die Grundlage.

Der in Deutschland von dieser Gesellschaft nahezu einhellig getragene, sehr erfolgreiche Prozess der dezentralen Energiewende hat also ausgesprochen positive volkswirtschaftliche Auswirkungen und birgt ein friedenspolitisches Potenzial von globaler Dimension.

Wir erwarten, dass sich die Abgeordneten des 18. Deutschen Bundestages durch die Stimmungsmache der vergangenen Monate nicht davon abbringen lassen, den eingeschlagenen Kurs der dezentralen Energiewende im Interesse des Gemeinwohls konsequent fortzusetzen. Dieses Jahrhundertprojekt darf nicht aufs Spiel gesetzt werden, nur weil einige Großkonzerne einen illegitimen und in der Zielsetzung gemeinwohlschädlichen Druck auf Regierung und Parlament ausüben.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dörte Siedentopf, Vorstand
Henrik Paulitz, Energieexperte

Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)
Körtestraße 10, 10967 Berlin
Email: paulitz@ippnw.de
www.ippnw.de

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