„Betrunkene“ am Staatstheater: Menschen am Rande des Erkenntnisdurchbruchs

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Gehen im Stück „Betrunkene“ vergeblich auf Gottessuche: Karl (Matthias Schamberger), Gustav (Hans-Werner Leupelt), Lore (Saskia von Winterfeld). Foto: Staatstheater Braunschweig/Volker Beinhorn

Den ganz großen Lebensfragen mag sich nicht jeder gern im Alltag stellen: Was ist Liebe? Was ist Freiheit? Wo ist Gott? Und wer hat schon mit meiner Frau geschlafen? Solche Wahrheiten ertragen nur Philosophen, Kinder – und Betrunkene. Folgerichtig füllt Autor Ivan Wyrypajew seine Protagonisten ordentlich ab, bevor er sie auf die Bühne, oder besser: in den Ring schickt. Denn zu einem solchen ist die Spielfläche im Staatstheater leergeräumt für das Stück „Betrunkene“, das am Freitag im Großen Haus Premiere hatte. Eine Mammutaufgabe für die Akteure, die volle zweieinviertel Stunden ohne Pause Präsenzpflicht vor dem Publikum haben, ohne sich auch nur in der kleinsten Kulisse erholen zu können. Und die Requisite stellt nur ein paar Luftballons und Konfettischnipsel zur Verfügung. Doch die Schauspieler meistern diese Herausforderung mit Bravour. Eine eindrucksvoll geschlossene Ensembleleistung.

 

 Vor minimalistischer Kulisse entwickelt das Staatstheater-Ensemble eine Komödie mit philosophischem Tiefgang. Foto: Staatstheater Braunschweig/Volker Beinhorn

Ein Junggesellenabschied, eine Filmfest-Premiere, ein Abendessen mit befreundeten Nachbarn – diese durch und durch bürgerlichen Vergnügungen führen dazu, dass die 14 meist gut situierten oberen Mittelschichtler an den Rand zur Erkenntnis ihrer Existenz durchbrechen. So eröffnet Martha (Darja Mahotkin) doppelbödig das Stück mit dem Schrei: „Was soll das alles?“ und es bleibt dahingestellt, ob sie den desolat alkoholschwangeren Abend meint, der hinter ihr liegt – oder ihr Dasein im Allgemeinen. In der Folge setzt Wyrypajew diese stilistische Dialogform immer wieder ein, ohne sie freilich zu überstrapazieren. Dazu sind die Fragen zu tief, die Pointen zu zielsicher, ist das groteske Spiel des Staatstheater-Ensembles zu treffgenau. Etwa wenn Laurenz (David Simon) in der Pose des Heilsbringers lallend deklamiert: „Ich bin bereit, euch aufzurichten!“ – und dann stumpf wie ein Mehlsack umkippt.

Regisseur Stephan Rottkamp (siehe gesondertes Interview im braunschweig-spiegel vom Freitag, 31. März) ist es zu verdanken, dass die Komödie nie zur zotigen Plotte wird. Und das, obwohl die Konversation anlassentsprechend nicht immer in lupenreinem Feindeutsch geführt wird. Denn hinter den vermeintlich spaßigen Themen verstecken sich die aktuellen Lebenslügen der modernen Gesellschaft. Da klammert sich Magda (Rika Weniger) mantrahaft an die Ausflucht des fehlerhaften Individuums und sagt zum Mann ihrer besten Freundin: „Alles ist vorab entschieden. Dass ich Dich meiner besten Freundin wegnehme, ist vorab entschieden.“ Und Baufirmen-Manager Gabriel (Oliver Simon) tröstet sich damit, dass er „Gottes Geflüster in seinem Herzen“ vernimmt, weil er mit dem Gottesbegriff per se so rein gar nichts anzufangen weiß.

Rudolf (Alexander Wanat), Gabriel (Oliver Simon), Rosa (Amelie Schwerk) und Max (Phillipp Grimm) feiern einen feucht-fröhlichen Junggesellenabschied. Foto: Staatstheater Braunschweig/Volker Beinhorn

Die großen Begriffe des Daseins werden auf den Kopf gestellt und die vermeintlichen Wahrheiten unserer Zivilisation ins Gegenteil verkehrt – zumindest in dieser einen, dionysischen Nacht. Das Ganze kommt gottlob ohne den furchtsam erhobenen moralischen Zeigefinger aus, der den Alkohol selbst verteufelt. Der russische Autor nimmt ihn als das an, was er ist: als einen chemischen Katalysator, der zwar nicht ideal der Wahrheitsfindung dient, aber die banale Ordnung der Realität kurzfristig auflöst.

Reichlich Szenenapplaus, Lacher und stürmischer Beifall vom Publikum.

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