Vorbemerkung der Redaktion: Das Dachgeschoss der VHS in der Alten Waage war voll besetzt, eine etwa gleichgroße Anzahl von Zuschauern verfolgte den Vortrag von Dr. Michael Lüders online. Vor Lüders sprach Sadique al-Mousslie, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime Niedersachsens. Er sagte, die Muslime bemühen sich darum, alle Minderheiten gleich respektvoll zu behandeln, darunter auch die Juden; und er dankte Dr. Lüders wie der Volkshochschule, die im Rahmen ihres Programms der politischen Bildung zum Vortrag eingeladen hatte. Eingangs wies Lüders auf die zu dem Zeitpunkt noch geplante Resolution des Deutschen Bundestages zum Antisemitismus hin. Er bezeichnete sie als „Angstmacherresolution“, weil sie nicht nur den Antisemitismus kritisiere, sondern auch nahelege, die Kritik an der israelischen Regierung unter die Rubrik „Antisemitismus“ zu stellen. Bis Mittwochabend haben mehr als 4000 Einzelpersonen sowie Dutzende Organisationen aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft einen Offenen Brief unterzeichnet, in dem sie eine Einschränkung der Meinungsfreiheit-, Kunst-, Wissenschaft- und Versammlungsfreiheit durch die besagte Resolution befürchten (FAZ, 7.11.24). Dessen ungeachtet wurde sie nun doch im Bundestag verabschiedet. Lüders zeigte in seinem Vortrag, wie dringlich es ist, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern scharf zu kritisieren. Er berief sich an vielen Stellen auf die Ausführungen und Belege in seinem gerade erschienenen Buch „Krieg ohne Ende?“. a.m.
Von Helmut Kaess
Lüders ist der festen Überzeugung, dass Israel plane, das palästinensische Volk zu „reduzieren“ und zu vertreiben, wobei das Reduzieren durch Töten, Verhungernlassen und fehlende bzw. verhinderte Versorgung betrieben werde. 70% der Opfer der Bombardierungen seien nach Angaben der UN Frauen und Kinder. Die israelische Regierung möchte alle benachbarten Staaten in die Knie zwingen.
Gaza sei schon länger völlig überbesiedelt, auch durch die Vertreibung von Palästinensern aus Israel, und jetzt sei beabsichtigt, die Palästinenser aus dem Nordteil von Gaza durch das Abschneiden jeder Versorgung nach Süden zu zwingen. Seinerzeit sei Gaza durch 250 Lastwagen täglich versorgt worden, jetzt gebe es nur noch 10. Die chronisch Kranken und die Säuglinge stürben zuerst. Durch die flächenmäßige Zerstörung von Wohngebäuden seien riesige Asbestwolken entstanden, so dass auch diejenigen, die die Bombardierungen und den Hunger überlebten, später daran erkranken und zu Tode kommen könnten. Insgesamt sei das Massenmord. Nun habe die israelische Regierung sogar beschlossen, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästinenser ab Januar 2025 die Arbeit zu verbieten; die 13.000 Mitarbeiter der UNRWA sind seit 1949 das Rückgrat der Versorgung der Palästinenser, auch zuständig für Schulen und die Gesundheitsversorgung. Niemand anders könne diese Aufgabe übernehmen, so dass die israelische Regierung bewusst Verhältnisse erzwinge, in denen das Überleben letztlich nur noch durch Flucht in andere Gebiete oder Länder erreicht werden könne.
1948 habe es die erste Nakba gegeben (die Verteilung von etwa 750.000 Palästinensern), 1967 die zweite. Und jetzt solle die dritte bewerkstelligt werden. Schon gäbe es Pläne der jüdischen Wiederbesiedlung zumindest des nördlichen Teils des Gazastreifens.
Triebkraft dieser Politik seien Vorstellungen von „Erez Israel“, wonach das gesamte Gebiet den Israelis zustehe, mindestens das Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, wohl auch die Golanhöhen (annektiert, zu Syrien gehörig). In dem so angestrebten „Erez Israel“ hätten die Palästinenser keinen Platz mehr, sie sollten nach Jordanien, Ägypten oder sonstwohin abwandern. Dabei sei die palästinensische Bevölkerung sogar etwas größer als die israelische.
In Deutschland gebe es angesichts dieser Lage pure Heuchelei, wenn nur über Antisemitismus gesprochen werde, aber die Realität der israelischen Kriegsführung mit ihren verheerenden Folgen verdrängt oder verschleiert werde. Das Ansehen der deutschen Regierung sei weltweit im Sinkflug, nicht zuletzt wegen der fortgesetzten Waffenlieferungen an Israel. Das Bild Deutschlands als bedingungsloser Unterstützer der israelischen Kriegspolitik verfestige sich immer mehr, was auf Dauer mit schwerwiegenden Folgen verbunden sein werde.
Die Warnrufe häufen sich. Jan Egeland, früherer Diplomat und Leiter der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council, war vergangene Woche in Gaza und erhebt schwere Vorwürfe.
Die FAZ von heute (13.11.) bringt ein Interview mit ihm. Zitat: „Es war wie in einem dystopischen Film, wie man sich Stalingrad vorstellt.“ Er zeigt die Ausweglosigkeit für die palästinensische Bevölkerung, bezeichnet die Behauptung der israelischen Regierung, dass es keine Begrenzung für humanitäre Hilfe gebe, als „Lüge, man kann es nicht anders sagen“. Und er wirft den USA, Deutschland und Großbritannien vor, sie würden in diesem Krieg „nur eine Seite unterstützen“. Dabei spricht er Israel keineswegs das Recht ab sich zu verteidigen. Aber: „Es gibt viele Staaten, in denen Tausende Menschen durch Terror getötet wurden. Das Vereinigte Königreich hat Irland nicht dem Erdboden gleichgemacht, trotz der Bombenanschläge der IRA…“