Heute, am 12.Januar 2022 ist es 35 Jahre her, dass Richter und Staatsanwälte vor dem Atomraketendepot in Mutlangen gegen die Stationierung der Pershing II protestierten. Das erregte international Aufsehen, denn so etwas tun Richter und Staatsanwälte nicht, zumal diese Aktion nach der damaligen Rechtsauffassung, auch noch rechtswidrig war. Mutlangen kam in die Weltpresse. (Pressespiegel) Nach der Festnahme und Personalienfeststellung wurde gegen sämtliche Demonstranten Strafanzeige wegen „Nötigung“ erstattet. Der ehemalige Richter am OLG Braunschweig, Dr. Helmut Kramer, aus Wolfenbüttel war mit dabei.
Vom Amtsgericht Schwäbisch Gmünd sind 16 Strafbefehle erlassen worden. In vier Fällen hat der zuständige Amtsrichter Krumhard den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt. Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Ellwangen jedoch diese Ablehnungsbeschlüsse aufgehoben und dem Richter Krumhard die Zuständigkeit entzogen. Alle Angeklagten wurden zu einer Geldstrafe verurteilt gegen die Rechtsmittel eingelegt wurde.
Hier die öffentliche Erklärung der Richter und Richterinnen:
Im Wortlaut: Die Menschheit als Geisel
Wir sind Richterinnen und Richter und gehören der Initiative Richter und Staatsanwälte für den Frieden an. Wir haben gemahnt und gewarnt durch unsere Mitarbeit in lokalen Friedensgruppen, durch Zeitungsanzeigen, Demonstrationen und Resolutionen, durch unsere Friedensforen in Bonn im Sommer 1983 und in Kassel im November 1985. Die Warnungen der Friedensbewegung sind, soweit sie überhaupt gehört wurden, verhallt. Heute ist unsere Sicherheit stärker gefährdet als je zuvor. In Reykjavik sind umfassende Abrüstungsvereinbarungen gescheitert. Es droht die Fortsetzung der weltweiten Atomwaffentests.
Deswegen blockieren wir heute in Mutlangen. Wir meinen, daß dies besser gehört wird als alle unsere Worte bisher. Weiter „Pressehütte“.
Der in Wolfenbüttel wohnende ehemalige Richter am Oberlandesgericht Braunschweig, Dr. Helmut Kramer, gehörte auch zu den Mutlangen-Richtern, die sich im Januar 1987 vor ein US-Atomwaffen-Depot auf die Straße gesetzt und einen Militärkonvoi blockiert haben. Auch er wurde festgenommen, und damit bekann eine juristische Odyssee, denn wer Kramer kennt der weiß: er gibt nicht auf, und soweit möglich bis zum Bundesverfassungsgericht. Er schrieb damit Rechtsgeschichte.
Die Sitzblockade in Mutlangen war ein Meilenstein in der Geschichte des gewaltlosen, zivilen Widerstandes. Eine Protestform, die noch heute aktuell ist, wie „Stuttgart 21“ und die Castortransporte gezeigt haben. Vor allem irritierte damals die Staatsmacht, dass sich hier keine langhaarigen Hippies von Polizeibeamten wegtragen ließen, sondern Repräsentanten eben dieser Staatsmacht.
Auf Mutlangen folgte vor verschiedenen Gerichten ein juristisches Tauziehen unter Kollegen, Richter gegen Richter, munitioniert mit Befangenheitsanträgen und Klagen an die jeweils höhere Instanz bis zu einer Verfassungsbeschwerde. Legendär in der Justizgeschichte ist die erste Verhandlung mit dem Vorsitzenden Richter Werner Offenloch im Saal 11 des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd. Vor einem Gericht, das sonst über Trunkenheitsfahrten und Ladendiebstähle urteilen musste, ging es um nicht weniger als einen möglichen atomaren Weltuntergang. Das musste schief gehen.
Das Amtsgericht verurteilte die beteiligten Richter, auch Helmut Kramer, zu Geldstrafen. Kramer trieb, wie erwartet, die juristische Auseinandersetzung (Richter gegen Richter) auf die Spitze und ging vor das Bundesverfassungsgericht. Das höchstrichterliche Urteil: Sitzblockaden seien keine Nötigung. Alle Richter, auch Kramer, wurden in Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Auch die Begründung von Kramer zur Auslegung des Nötigungsparagrafen hat Rechtsgeschichte geschrieben.
Taktvoll soll es wenigstens dort beim BVG zugehen. »Darf ich eigentlich«, fragte sich schon bei der Tat einer der blockierenden Richter, »das Hohe Gericht mit ,liebe Kollegen‘ anreden?«