Regelbrüche bei Protest legitim

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Dr. Helmut Kramer nach der Preisverleihung zum "Fritz Bauer-Preis" in der Gedenkstätte gegen Nazi-Terror in Köln. Foto: Uwe Meier

In der Süddeutschen Zeitung erschien am 04.06.2019 der Leserbrief von Dr. Helmut Kramer aus Wolfenbüttel zum Thema Regelbrüche in unserem Rechtsstaat. Die Diskussion kommt immer wieder auf, wenn es zu Regelbrüchen kommt oder solche erwartet werden. Beispielsweise dann, wenn Initiativen zu zivilem Ungehorsam aufrufen. Deutliches und viel diskutiertes Beispiel ist derzeit der sog. „Schulstreik“ am Freitag, zu dem regelmäßig „Fridays for Future“ aufruft.

Nun teilt Christoph Bautz von der Initiative „Campact“ folgendes mit: „Gemeinsam mit meiner Kollegin Luise Neumann-Cosel und Tausenden Klimaschützer*innen will ich Ende Juni die Kohlebagger im Rheinischen Revier – dem Tatort der Klimakrise – blockieren“. Bautz führt, um die rechtliche Problematik wissend, weiter aus, warum er und andere diese Form des zivilen Ungehorsams wählen.

Mit dieser Problematik hat Dr. Helmut Kramer aus Wolfenbüttel reichlich Erfahrung.

Unten finden Sie einen Leserbrief von Dr. Helmut Kramer, ehemals Richter am Oberlandesgericht in Braunschweig. Er nahm seinerzeit am Sitzstreik von Mutlangen teil und prozessierte bis zum Bundesverfassungsgericht. Über die Organisation des richterlichen Sitzstreiks vor Mutlangen gibt es Ausführungen, die unten dokumentiert sind.

Leserbrief in der SZ vom 4. Juni 2019: Es wird Zeit, dass das Prinzip bewusster Regelmissachtung als Teil demokrati­schen Engagements anerkannt wird. So haben im Jahr 1987 die vielen Sitzde­monstrationen im schwäbischen Mutlangen (sogar 20 RichterInnen waren da­bei) sich gegen die menschheitsbedrohende Stationierung amerikanischer Mit­telstreckenraketen gerichtet. Hierhin gehört auch die Offenlegung gewisser Geheimnisse durch sog. Whistle Blower, aber auch die Schulpflichtverstöße der Initiative „Fridays for Future“ und die Veröffentlichung des die abgrundtiefe Kor­ruptheit des österreichischen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache enthüllen­den Ibiza-Videos.

Lesen Sie hier einen der Prozessverläufe in 1. Instanz in ZEIT online vom 17. Juli 1987

Sitzblockade nicht stets Nötigung“, urteilte das Verfassungsgericht in letzter Instanz.

Aktion Richterblockade in Mutlangen

Als Helmut Kramer sich am 12. Januar 1987 mit 19 weiteren RichterInnen bei -20° Kälte auf den Feldweg vor dem Pershing II-Atomwaffendepot in Mutlangen bei Schwäbisch-Gmünd setzte, tat er dies auch in dem Gedanken daran, dass einfacher ziviler Ungehorsam heute existentiell kaum gefährlich ist, ganz im Unterschied zu dem Widerstand unter der nationalen Diktatur, bei dem oftmals auch weniger gesicherte und weniger gebildete Menschen ihrem Gewissen gefolgt sind und ihr Leben eingesetzt haben. Mehr als eine Gehaltskürzung und ein Beförderungsstopp konnten den Teilnehmern der berühmten Richterblockade vom 12. Januar 1986 nicht drohen. Sie wurden zwar in allen Instanzen zu unter Berücksichtigung der Umstände durchaus erträglichen Geldstrafen verurteilt und galten als vorbestraft.

Die Idee zu der Aktion war auf dem Richterratschlag Anfang November 1986 im Ostseebad Weißenhäuser Strand entstanden. Allerdings waren anfangs nur 19 Richterinnen und Richter zur Teilnahme an der Aktion bereit, dies unter der Bedingung einer Mindestteilnehmerzahl nicht unter 20, nicht nur wegen der runden Zahl, sondern auch, um sich gegenüber disziplinären Maßnahmen schwerer angreifbar zu machen. Zu jener Tagung in Weißenhäuser Strand war Helmut Kramer in dem festen Entschluss gekommen, nicht mitzumachen. Angesichts der damals begonnenen kräfteaufreibenden und noch laufenden anderen Initiativen, wollte Helmut Kramer sich endlich eine Verschnaufpause gönnen. Ihm war klar, dass die nun folgenden Strafprozesse und die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der von der herrschenden Meinung festgezurrten Nötigungsjudikative hauptsächlich wieder einmal bei ihm, als dem theoretischen Kopf liegen würde. In der Tat war es Kramer, der dann in vielen Aufsätzen die h. M. (die bei Juristen herrschende Meinung) zerpflückt hat.

Als unter den ungefähr 230 am Weißenhäuser Strand versammelten Richterinnen und Richtern immer wieder nach weiteren Teilnehmern gesucht, und es endgültig bei nur 19 Teilnehmern blieb, hat sich Helmut Kramer schließlich doch angeschlossen. Wenn ich mich da herausgehalten hätte, sagt er, hätte ich in den Jahrzehnten meiner Beschäftigung mit den NS-Verbrechen und dem damaligen Duckmäuser-Verhalten nichts gelernt. Sein Leitspruch ist noch heute:

Wer sich nicht beizeiten, noch unter dem ungetrübten Himmel Rechtsstaat und Demokratie nicht in Kritik, Widerspruch und Zivilcourage übt, wird dazu unter einem autoritären Regime noch weniger bereit und in der Lage sein.

Gelernt hatte Helmut Kramer auch bei seinem eigenen Sitzblockade-Prozess in Schwäbisch Gmünd: Ironisch sagt er: in den 2 oder 3 Stunden, in denen ich auf der Zufahrt zu dem Raketen-Depot auf meinen vier Buchstaben gesessen habe, habe ich mit der nachfolgenden juristischen Arbeit mehr gelernt, als manche Leute, die Jahre dazu brauchen, um die zwei Buchstaben des Dr. -Titels zu erwerben. Wozu im Fall Kramer gesagt werden muss: Schon Gegenstand seiner Dissertation war der Widerstreit zwischen Gewissen und Anpassungszwängen bei den Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung.

Das durch die Richterblockade erregte öffentliche Aufsehen war enorm. Die meisten (schätzungsweise 150) erschienenen Presseartikel hat Helmut Kramer gesammelt und in einer 82-seitigen Broschüre drucken lassen und auch vertrieben (zum Selbstkostenpreis von 4 DM).

Der Freund Philipp Heinisch (Rechtsanwalt und Zeichner) hat auf Anregung die von Kramer als „der Zauberhut“ bezeichnete Karikatur als Siebdruck hergestellt. Aus seiner jahrelangen Zusammenarbeit mit Philipp Heinisch sind im Laufe der Jahre mehr als ein Dutzend kritischer Karikaturen zu problematischen richterlichen Entscheidungen entstanden.

Um auch im Justizbereich und auch sonst möglichst bewusstseinsbildend wirken zu können, hat Helmut Kramer (natürlich ohne äußerlich als Akteur der Blockadeaktion selbst in Erscheinung zu treten) eine Solidaritätskampagne unter Richterkolleginnen und Richterkollegen organisiert. Das Ergebnis war eine große (halbseitige) Anzeige in der Wochenzeitung DIE ZEIT „Richter blockierten Atomraketen – Beendet den Wahnsinn der der atomaren Rüstung. Mit den Namen von 554 Richterinnen und Richtern, jeweils mit Ortsangabe. Weil es eilte und weil es galt, die Gunst der Stunde zu nutzen, organisierte Helmut Kramer den Versand von 1200 Briefen (den Mail-Weg gab es damals praktisch noch nicht) gemeinsam mit seiner Frau Barbara und einer befreundeten Braunschweiger Amtsrichterin. Sie arbeiteten an zwei langen Abenden in Wolfenbüttel daran: Adressen ermitteln, Briefe mit Anschriften versehen, kuvertieren usw.

Das Ergebnis (554 Unterschriften) übertraf alle Erwartungen. Natürlich wäre es keine Juristenaktion gewesen, wenn sich nicht auch hier unterschiedliche Meinungen ergeben hätten. Anders ausgedrückt: Mit etwas weniger Bedürfnis nach Individualität und mehr Willen zur Solidarität hätte sich die Unterschriftenmenge noch steigern lassen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: einige Kollegen begrüßten die Aktion grundsätzlich, ja sie hätten auch gern unterschrieben, nur beanstandeten sie die eine oder andere Formulierung des Anzeigentextes. Einer wollte nicht unterschreiben, weil er das Wort „Wahnsinn“ zu platt fand. Andere kritisierten die Kollegenschelte (die Kritik an den Richtern in Schwäbisch Gmünd, die Demonstranten am Fließband verurteilten). Ohne diese Ängstlichkeit wären vielleicht an die 1000 Unterschriften zustande gekommen. Aber allein die 554 Namen waren angesichts der herkömmlichen Richtermentalität schon viel.

Nach dem Wortlaut der Anzeige in DIE ZEIT vom 13.2.1980 bekundeten 554 Richter und Staatsanwälte den Mutlanger Demonstranten Respekt und appellierten mit ihnen an die für die atomare Aufrüstung Verantwortlichen.

Neben viel Zustimmung auch in den großen Tageszeitungen (mit Ausnahme der WELT) kritisierten einige Politiker die Aktion scharf. Otto Graf Lambsdorff, der Parteispende-Lambsdorff, forderte die Entlassung der demonstrierenden Richter.

Auch der niedersächsische Justizminister warf den Mutlanger Demonstranten einen Verstoß gegen das Gebot zur richterlichen Mäßigung und Zurückhaltung vor.

In der Tat kam es in mehreren Ländern zu disziplinären Maßregelungen, worauf sich gegen die Richterinnen und Richter Verfahren vor den Verwaltungsgerichten und Richterdienstgerichten anschlossen. In Braunschweig und an anderen Orten kam es zu Solidaritätsaktionen in Zeitungsanzeigen. Auch das führte zur wünschenswerten Bewusstseinsbildung in der allgemeinen Richterschaft.

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