Die Braunschweiger Gramsci Tage – abgehoben elitär oder unentbehrlich für die langfristige politische Praxis?
Am 7. und 8. Oktober 2011 finden die fünften Braunschweiger Gramsci Tage im Braunschweiger Gewerkschaftshaus statt. Es ist ein kleines Jubiläum. Aus diesem Grund sind die Gramsci Tage etwas umstrukturiert worden. Es gibt vier Referate, bisher war es nur eines. Dafür sind die Seminare am zweiten Tag auf den Nachmittag begrenzt worden. Das Programm ist attraktiv. Es ist wieder gelungen Referenten und Referentinnen zu gewinnen, die wegen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten nicht nur im deutschsprachigen Raum und nicht nur in der linken Szene einen guten Ruf haben. Das gilt für Sabine Kebir, Bernd Röttger und David Salomon. Das gilt insbesondere für Wolfgang Fritz Haug, der bis 2001 als marxistischer Philosoph an der FU Berlin gelehrt hat. Er hat entscheidend dazu beigetragen, dass das Denken Antonio Gramscis in Deutschland bekannt wurde; durch viele Veröffentlichungen, aber ganz besonders auch durch die (Mit-) Herausgabe der „Gefängnishefte“, Gramscis Lebenswerk. Und das gilt auch für Klaus Dörre, Professor für Soziologie in Jena, bekannt geworden durch seine differenzierte Kritik am Kapitalismus und u.a. Mitverfasser eines politischen Sachbuchbestsellers („Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte.“ Suhrkamp, 2009). Gerade dieses Buch hat die Anregung zu dem Titel der diesjährigen Gramsci Tage „Krise der Ökonomie – Krise der Hegemonie? Die Überlebenskunst des Kapitalismus“ gegeben.
Die Gramsci Tage sind der politischen Theorie gewidmet. Diese Ausrichtung stößt in unserer Zeit leicht auf Ablehnung und Kritik. Sie steht im Widerspruch zu der verbreiteten Grundüberzeugung, dass die Zweckhaftigkeit von Theorie unmittelbar und sofort an den Erfolgen politischer und gewerkschaftlicher Arbeit zu messen ist. Ist eine Theorie schwer vermittelbar und zeigt sie keinen schnellen Erfolg in der Praxis, dann gilt sie als elitär und abgehoben. Für jeden, der in der aktiven politischen oder gewerkschaftlichen Arbeit steht, ist diese Einstellung nachvollziehbar. Die Absolutierung dieses Grundsatzes führt jedoch in ein Dilemma. Gerade die entscheidenden politischen Prozesse sind hochkomplex und langfristig angelegt. Will man darauf Einfluß gewinnen, braucht man ebenso komplexe Analysen und Strategien. Es wäre fatal, wenn man dieses Terrain den „Eliten“ überlassen wollte. Nach Gramsci sind wir aber alle Intellektuelle und Philosophen,Wir brauchen also keine Abschottung von der politischen Theorie sondern eine unbändige Neugier darauf. Wer immer sich mit der gramscianischen Begrifflichkeit anfreundet, wer also zum Beipiel die Begriffe Staat, Hegemonie, Ideologie, Zivilgesellschaft oder Krise in seinem Sinne zu verwenden lernt, erfährt schnell den praktischen Nutzen beim Versuch politische Entwicklungen zu verstehen und Veränderungsstrategien zu beurteilen. Aber er wird Geduld brauchen und sich an das Denken und Planen in langen Zeiträumen gewöhnen müssen. Hierzu können die Braunschweiger Gramsci Tage einen Beitrag leisten. Zu den Gramsci Tagen gehört auch „Kultur“. In diesem Jahr übernimmt Roland Scull mit seinem vielfältigem Repertoire an politischen Liedern diesen Part.
Wer war Antonio Gramsci? Gramsci ist mit seinem scharfen Verstand und seinem unbeugsamen Willen eine faszinierende Persönlichkeit. Er verstand sich als kompromissloser Kämpfer gegen die Ausbeutungsverhältnisse dieser Welt. Er wusste, dass man eine bessere Welt nicht einfach durch den gewalttätigen Akt eines Umsturzes erreichen kann. Seine Einsicht war es, dass man nachhaltige Veränderungen nur mit den Herzen und Köpfen der Menschen herbeiführen kann. Auch angesichts der Niederlage gegen den Faschismus hat er dieses Ziel nie aus den Augen verloren. „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“ (Gefängnishefte, H. 28, §11, 2232). Diese Sichtweise ist heute noch modern.
Gramsci gilt als undogmatischer, als „westlicher“ Marxist. Seine Texte liefern keine fertigen Lösungen, sondern laden zum Denken ein. Die Aneignung der gramscianischen Begriffe ist schwierig, weil sie nie einen endgültigen Charakter haben. Sie sind ein Versuch, eine vielschichtige, ständig sich verändernden gesellschaftlichen Wirklichkeit verstehbar zu machen. Ihre Brauchbarkeit erlangen sie oft erst durch Interpretation (Haug: „Auch Marxisten brauchen eine Hermeneutik“). Deswegen werden bei den Gramsci Tagen Leseseminare angeboten, in denen dieser notwendige Raum für Diskussion und gemeinsamer Interpretation gegeben ist.
Und noch ein Tipp: In Zusammenhang mit den Gramsci Tagen findet am 5.10., 19:00 Uhr, eine Polit Poetry Lesung in der KaufBar, Helmstedterstr. 135, statt. Der Titel: „Arbeit macht das Leben süß…“. Der Abend wird gestaltet durch Dominik Bartels, Axel Klingenberg, Roland Kremer und Jan Egge Sedelies. Siehe auch Terminkalender.