Von Timo Reuter
Am 25./26. Oktober fanden die 17. Braunschweiger Gramsci-Tage (www.gramsci-tage.de) unter dem Titel „Revolutionäre Realpolitik heute – aktuelle Herrschaftsstrategien des Kapitals und unsere solidarische Gegenwehr“ statt. Das Programm startete am Freitag mit einem Gedenken an die Organizerin Jane McAlevy, die im Juli dieses Jahres verstarb. Ingar Solty sprach über die zunehmende Blockkonfrontation in der Welt, gefolgt von Dr. Fiona Kalkstein zu Autoritarismus und seinen Ursachen. Der Tag schloss mit dem Kulturprogramm vom Künstler:innenkollektiv M.Pört zum Thema Krieg und Frieden. Der Samstag begann mit einer Einschätzung von Dr. Judith Dellheim zur Herstellung der „Zeitenwende“ und dem Anteil des BDI daran, ergänzt von Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja unter der Frage, welche Ansatzpunkte es heute für eine solidarische Politik der Arbeit gäbe. Nach verschiedenen Workshops zur Vertiefung der Themen fand das Abschlussplenum mit Beiträgen Aktiver aus Gewerkschaft, Klimabewegung, sowie den Referent*innen statt. Die 17. Gramsci-Tage knüpften dabei mit knapp 100 Teilnehmenden an den bisherigen Besucherrekord aus 2023 an.
Ingar Solty: Der postliberale Kapitalismus und seine Alternativen
Ingar Solty charakterisiert den heutigen Kapitalismus als postliberalen Kapitalismus, nicht als autoritären, wenngleich er autoritäre Züge hat. Die inneren und äußeren Verhältnisse des Kapitalismus entsprächen nicht mehr denen des Neoliberalismus, wie er in den 70er Jahren aus der Krise des fordistischen Kapitalismus entstanden sei. Die Finanzkrise von 2007 markierte er als Zäsur der Entwicklung des Kapitalismus seit 1945 und als Ground-Zero hin zum postliberalen Kapitalismus.
Diese Krise und die ihr folgenden, Eurokrise (2010), Syrienkrieg (ab 2011), die „Flüchtlingskrise“ (2015) die Coronakrise (2020) und der Ukrainekrieg (ab 2022), kennzeichnen eine langanhaltende Krise, die mit der großen Depression (1873 – 1895) verglichen werden müssen. Der vom westlichen Kapitalismus eingeschlagene Weg der Austerität und der inneren Abwertung der Arbeitskraft (Abwälzung der Krisenlasten auf die breite Masse), habe sich der chinesischen, durch zentrale Planung charakterisierten, Ökonomie als unterlegen erwiesen.
China reagierte auf bisherige Eindämmungsversuche der USA, etwa der Drohung die Straße von Malakka zu sperren und so Chinas exportorientierte Wirtschaft abzuwürgen, durch die Stärkung der binnenwirtschaftlichen Entwicklung (weg vom Export), den Handel auf die eurasische Landmasse zu verlegen (Belt-and-Road Initiative) und mit dem pakistanisch-chinesischen Wirtschaftskorridor einen Zugang zum indischen Ozean, unter Umgehung der Straße von Malakka, zu haben. Die USA reagierten darauf ihrerseits mit einem forcierten Handelskrieg, der Aufkündigung der Ein-China-Politik (Unabhängigkeit Taiwans), dem damit verbundenen Versuch China von der Mikrochipproduktion (TSMC) abzuschneiden und einer forcierten Militarisierung des Westpazifiks.
In dieser Auseinandersetzung sieht Ingar einen neuen Kalten Krieg, mit einer erhöhten Weltkriegsgefahr, da im Unterschied zum Kalten Krieg 1.0, Chinas ökonomische Entwicklung und die Zustimmung der Bevölkerung zur eigenen Politik dem Westen überlegen sei. Dieser habe mit einem ökonomischen Niedergang und großer innenpolitischer Unzufriedenheit zu kämpfen.
Solty geht davon aus, dass die Auseinandersetzung zwischen den USA und China zunehmen und die relative Schwäche des Westens zu einer Verschärfung der Renationalisierungstendenzen führen wird. Für die gesellschaftliche Linke sieht er zwei Hauptaufgaben:
- Verhinderung einer neuen Blockkonfrontation; nur Entspannungspolitik könne Grundlage neuer eigener Klassenkämpfe sein
- Krisen haben sich so weit zugespitzt, dass die soziale Frage, Ökologie und der Kampf um Frieden nur zusammen gedacht und die Bewegungen zusammengebracht werden müssen, um fortschrittliche Wege finden zu können
Dr. Fiona Kalkstein: Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten – Ergebnisse der 11. Leipziger Autoritarismusstudie
Fiona Kalksteins Referat war der Versuch, mit einem psychoanalytischen Ansatz die Verarbeitung der Realität der breiten Bevölkerung zu verstehen und der Frage auf den Grund zu gehen, wieso die Verarbeitung mit einer Hinwendung zum Autoritarismus geschieht und nicht mit gesellschaftlicher Gegenwehr.
Wichtig sei es, autoritäre Dynamiken und Formationen als gesellschaftliche Dynamiken zu erkennen. Das sog. Autoritäre Syndrom, entspringe autoritären Tendenzen innerhalb der Gesellschaft und kann kein reiner Vorwurf an das Subjekt sein. Kritik müsse sich immer gegen die Verhältnisse richten, die Autoritarismus hervorrufen. Das autoritäre Syndrom sei eine verinnerlichte gesellschaftliche Dynamik, die dazu führt, dass eigene Reaktionen in autoritären Mustern verlaufen (Wunsch nach Führung und Unterwürfigkeit). Autoritarismus entstehe aus autoritären Erfahrungen, welche zu Konflikten führen und nicht demokratisch oder egalitär aufgearbeitet werden. Gerade in Krisensituationen nehme die Hinwendung zum Autoritarismus zu, da diese eine Bedrohung mit ungewissem Ausgang sei.
Gesellschaftliche Institutionen wie KiTas, Gewerkschaften, Vereine, etc. können einer autoritären Tendenz entgegenwirken, da sie eine Aufarbeitung in demokratischen Strukturen ermöglichen. Wichtig sei es, insbesondere für die politische Bildungsarbeit, auf Erleben und weniger auf Aufklärung und Belehrung zu setzen. Dies führe eher zu Ablehnung. Dazu zählte sie auch die auf Kognition zielende politische Bildung. Gemeinsames Lernen und der Raum für Schwäche könne als Gegenentwurf helfen.
Die Zentrale Erkenntnis der Studie sei, dass der Anteil von Menschen mit geschlossenem rechtsextremem Weltbild seit 2002, im Osten zuletzt signifikant seit 2020, im Durchschnitt sank, sich autoritäre Aggressionen heute jedoch andere Legitimationen, etwa Muslimfeindschaft, Antiziganismus, Antifeminismus und Sexismus, suchen.
Dr. Judith Dellheim: Die gemachte „Zeitenwende“ und der Anteil des BDI an den gegenwärtigen Herrschaftsstrategien – Herausforderungen für sozialistische Opposition
Judith Delheim begann ihr Referat mit einem Zitat von Rosa Luxemburg, in dem sie feststellte, dass „die erste Bedingung einer erfolgreichen Kampfpolitik (…) das Verständnis für die Bewegungen des Gegners“ sind. Diese politökonomische Gegnerbeobachtung wendete sie auf die Politiken des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) und die Meilensteine auf dem Weg zur Zeitenwende und ihrer Umsetzung an.
Nach einem kurzen Abriss der Geschichte des BDI, welcher seit seiner Gründung 1949 für eine Westbindung, die Remilitarisierung und ein Bekenntnis zur NATO stand, verwies sie auf ein Ende der neunziger Jahre einsetzenden Trend des BDI auf europäische und deutsche Autonomie mit eigenen zu steigernden militärischen Kapazitäten zu setzen. Es müsse ein Hand-in-Hand zwischen der zivilen und militärischen Industrie geben. 2009 wurde ein neuer Bundesverband der dt. Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) gegründet, welcher sich als Vertreter der dt. Rüstungsindustrie innerhalb der NATO versteht und entsprechend in ihren Gremien vertreten ist.
Seit 2017 wurde der BDI noch offensiver, wenn es um Außenpolitik geht, was dieses Zitat verdeutlicht: „Trotz seines wirtschaftlichen und politischen Gewichts hat Deutschland immer noch Schwierigkeiten, seine internationale Rolle zu definieren. Für eine umfassende und strategische Sicherheitspolitik ist es an der Zeit, dass Deutschland seine Bedeutung im internationalen Gefüge anerkennt und ausfüllt.“ (BDI 2017, Für eine moderne Sicherheitspolitik, S. 2)
Unter dem Titel „Zeitenwende/Wendezeiten“ veröffentlichte die Münchner Sicherheitskonferenz 2020 eine Sonderausgabe des „Munic Security Report“ und würdigte darin die Vorreiterrolle des BDI bei der Bewertung von Chinas Politik und bezog sich auf Reden von Regierungsmitgliedern vor den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft.
Die Forderung nach Aufrüstung der BRD begann also weit vor der Eskalation im Ukrainekrieg (Februar 2022). Resultierend aus der Vorreiterrolle des BDI bei der Zeitenwendepolitik und der damit verbundenen Militarisierung der Gesellschaft, schlug Judith vor, ein eigenes Watch-Center für den BDI, ähnlich der Informationsstelle Militarisierung (IMI), einzurichten. Zu viele Chancen, die Rolle des BDI zu beobachten und wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen seien schon vertan worden.
Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja: Mit „revolutionärer Realpolitik“ zur sozial-ökologischen Transformation? Ansatzpunkte für eine solidarische Politik der Arbeit
Nicole Mayer-Ahuja begann ihr Referat mit der Frage, was revolutionäre Realpolitik sei, und lenkte dabei den Blick auf das Gedicht „Lob des Revolutionärs“ von Bertolt Brecht. Revolutionäre Realpolitik bedeute heute:
- Kampf um Lohn und Arbeitsbedingungen, ebenso wie Kampf um die Macht in Staat (politische Demokratie) sowie Wirtschaft (Eigentum)
- Kampf gegen die kulturelle Hegemonie der Sachzwänge; Interessen in Mittelpunkt stellen
- Unruhe des Kapitalismus (Spaltung), eigene Unruhe (Solidarität) entgegensetzen
Es müsse darum gehen, eine Mobilisierung und Solidarität von unten aufzubauen, mit dem Zeil, die als anonyme Bedrohung wahrgenommenen Transformationsprozesse des Kapitalismus zu verstehen. Zu verstehen, als eine interessengeleitete Programmatik der herrschenden Klasse, die es im eigenen Sinne zu formulieren gilt. Revolutionäre Realpolitik müsse heute den Kampf um die Köpfe aufnehmen. Dazu müsse sie ein politisches Profil entwickeln, da die sozial-ökologische Transformation kein Sachzwang, sondern ein politisches Projekt sei. Ein politisches Projekt, welches die Interessen der Arbeitenden Klasse in den Mittelpunkt stellt. In den Köpfen der Menschen stecke immer zweierlei. Der Grundstoff zur Spaltung, auf den die herrschende Klasse setze, aber auch das Bedürfnis nach Solidarität.
Beispiele Revolutionärer Realpolitik? SALCOS und GKN
Unter diesem Titel diskutierte das Abschlusspodium zwei industriepolitische Beispiele. Einerseits die Salzgitter Flachstahl GmbH, die mit dem international bedeutsamen SALCOS-Projekt bereits eine CO2-freie Stahlproduktion bis 2030 anstrebt. Die öffentliche Beteiligung und Steuerung durch die „Allianz für die Region“ spielen dabei genauso eine Rolle, wie die betriebliche Mitbestimmung. Es zeigte sich in der Abschlussdiskussion, dass Teile der organisierten Arbeiterbewegung in Zusammenarbeit mit organischen Intellektuellen (vgl. Gramsci) im Kapitalismus fortschrittliche Transformationsalternativen entwickeln und unter erweiterten Eigentums- und Mitbestimmungsverhältnissen, reale Reformprojekte im Kapitalismus umsetzen können. Die Profitlogik wird teilweise durchbrochen und die freiwerdenden Mittel ermöglichten alternative Wege.
Anders macht es die Belegschaft von GKN bei Florenz, welche auf die Schließung ihres Werkes mit der Gründung einer Genossenschaft reagierte und seitdem um die Kontrolle über die Produktion kämpft. Ziel ist der Umbau dieser auf eine ökologische Produktpalette. Dieses Projekt war ein deutlich radikalerer Ansatz, wobei sich der Kampf aktuell zuspitze. In den kommenden Monaten werde sich entscheiden, ob die Genossenschaft sich durchsetzen werde und der nun seit mehr als drei Jahren währende Kampf um die Eigentumsfrage gewonnen werden könne. Timo Reuter
Hinweis der Redaktion: Dieser Text ist ein Vorabdruck aus: Marxistische Blätter 1_2025 „Mit Technik das Klima retten?“, Seite 131 ff. Ab Januar 2025 zu bestellen bei:
www.marxistische-blaetter.de“
Danke, Timo, für Deinen Bericht. Zu Soltys Beitrag möchte ich sagen, dass wir m.E. im Moment als wichtigsten Kampf den um unser Überleben wegen der Gefahr eines Nuklearkrieges haben. Und dabei geht es besonders um den m.E. lange bestehenden kranken Wunsch der USA, eine unilaterale Weltordnung beizubehalten, unter der These, der Nachbar könnte Dein Mörder werden. Die Waffentechnologie geht immer weiter und es gibt immer mehr Möglichkeiten zum Selbstmord der Menschheit. Wir sollten den Multilateralismus wählen, weil er die einzige Möglichkeit zu menschlichem Glück ist, was laut Albert Einstein einfach möglich ist. Aber die Dummheit der Menschheit sei unendlich… Zu meiner Theorie für Interessierte dieser Link: „Meine Sicht auf die Zusammenhänge https://wp.me/paI27O-5Uh„