„Sie zählen auf Panzer und Raketen, wir in den Städten und Gemeinden zählen jeden Euro zweimal“

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Foto: pixabay

Vorbemerkung: Der Bürgermeister von Hiddensee warnt uns alle: „Wir, die Städte und Gemeinden, sehen, wie der Sozialstaat – und unsere Heimat – schleichend ausgeblutet wird.“ Schon jetzt fehlt es an Geld für Schulen, Feuerwehren, Lehrerstellen, Gesundheitsversorgung und Vieles mehr. Nun aber soll so viel geliehenes Geld in die anscheinend unbegrenzte Aufrüstung gesteckt werden, dass kommende Generationen zwar die aufgehäuften Schulden bezahlen „dürfen“, sich aber mit immer größer werdenden Einschränkungen abfinden müssten – auf Ebene des Gesamtstaats (Stichwort Sozialstaat) und auch auf Ebene der Gemeinden. Gens möchte sich nicht mit dieser schiefen Bahn abfinden, auf die wir uns gerade begeben. Er ruft auf, um das Überleben unserer sozialen und kommunalen Infrastruktur zu kämpfen. Und er hat Recht, wenn er sagt, dass es politischen Mut braucht, sich der ausufernden Rüstung zu widersetzen. Wer sich nur verteidigen will, braucht sie nicht in diesem Ausmaß – wenn überhaupt. – Übrigens: die Stadt Braunschweig hätte allen Grund, die Erklärung von Gens auch zu unterschreiben. Das Thema ist für die Kommunalwahlen, die in gut einem Jahr stattfinden werden, von grundlegender Bedeutung. – Wir veröffentlichen den Offenen Brief mit freundlicher Genehmigung von Thomas Gens. (a.m.)

Offener Brief von Thomas Gens, Bürgermeister von Hiddensee, an Bundeskanzler und Bundestag (22. Juli)

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Merz, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

während Sie und viele Abgeordnete auf Panzer und Raketen zählen, zählen wir in Städten und Gemeinden jeden Euro zweimal. Während Sie Milliarden über Milliarden in Rüstung, Aufrüstung und Auslandseinsätze pumpen, kämpfen wir vor Ort ums Überleben unserer sozialen und kommunalen Infrastruktur – ja, unserer Heimat und unseres Wohlstands.

Wir auf Hiddensee wollen Wohnungen bauen, unsere Schule sanieren und digitalisieren – und endlich eine eigene Schulsporthalle errichten. Unsere Häfen brauchen neue Molen, und in den Hochwasserschutz muss dringend investiert werden. Genauso in unsere Feuerwehren und Infrastruktur für Insulaner und Gäste. Doch dafür, heißt es, fehle das Geld. Keine „Sondervermögen“, keine „Zeitenwende“, kein „Bündnis für unsere Heimat“. Stattdessen: Haushaltssperren, Bürokratie, Kürzungspläne und Prüfaufträge.

Nun wird in Mecklenburg-Vorpommern (MV) ein „Investitionsgipfel“ mit großem Tamtam gefeiert – 1,92 Milliarden Euro aus einem Sondervermögen für das ganze Land. Klingt nach viel, doch in Wahrheit verteilt sich die Summe auf zehn Jahre – also rund 192 Millionen! Euro jährlich für das gesamte Bundesland.

Doch wie viel davon kommt tatsächlich bei den Kommunen an? Wer entscheidet, welches Projekt gefördert wird – und wer leer ausgeht? Und wie sollen davon über 700 Städte und Gemeinden im Land ernsthaft profitieren, wenn allein auf Hiddensee bereits Millioneninvestitionen für Schule, Wohnungsbau und Küstenschutz notwendig wären?

Was uns fehlt, sind keine Überschriften mit Milliardenbeträgen – sondern verlässliche Mittelzuweisungen, Planungssicherheit und eine gerechte Beteiligung auch kleiner Gemeinden.

Besonders absurd wird die Lage im Vergleich zu anderen Ausgaben:

Während für alle Kommunen in MV 1,92 Milliarden Euro für 10 Jahre bereitstehen, stellt der Bund allein im Jahr 2025 rund 7 Milliarden Euro für Waffenlieferungen und militärische Unterstützung der Ukraine bereit – Jahr für Jahr mehr, ohne öffentliche Debatte über Prioritäten.

Dazu kommen rund 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr sowie mehr als 70 Milliarden Euro Verteidigungsetat jährlich – mit steigender Tendenz.

Und die NATO-Vorgabe von 2 % des BIP bedeutet für Deutschland bald über 100 Milliarden Euro pro Jahr – dauerhaft.

In wenigen Jahren wird Deutschland für das Militär mehr ausgeben als für Bildung, Gesundheit oder Wohnungsbau zusammen.

Und wer bezahlt das? Nicht Rheinmetall. Nicht Lockheed Martin. Nicht General Dynamics. Nicht die USA, die jüngst Patriot-Raketen versprechen und liefern.

Sondern wir – die Bürgerinnen und Bürger.

Wir, die Kommunen, Städte und Gemeinden, sehen, wie der Sozialstaat – und mit ihm unsere Heimat – schleichend ausgeblutet wird. Während Milliarden für Kampfjets, Leopard-Panzer und Raketen freigemacht werden, fehlt uns das Geld für Schulen, Lehrerstellen, Feuerwehren, Gesundheitsversorgung, Rentnerinnen und Rentner, Wohnungsbau und Katastrophenschutz.

Die Bundesregierung hat sich offenbar entschieden: Für Aufrüstung, für Schulden, für Kriegstüchtigkeit – und gegen soziale Gerechtigkeit, gegen kommunale Handlungsfähigkeit, gegen Vernunft.

Dass Sie all das noch mit „Verantwortung für kommende Generationen“ rechtfertigen, ist schwer zu verstehen. Diese Generationen werden die Schulden bezahlen – wenn über Panzer hoffentlich längst nicht mehr geredet wird.

Es braucht jetzt ein konsequentes Umsteuern zugunsten der Kommunen und unserer Heimat:

– Investitionen in z. Bsp. in Schulen, Wohnungen, Krankenhäuser, Feuerwehren, ÖPNV und Pflege statt in Kriegsgerät.

– Eine Rückbesinnung auf das Friedensgebot des Grundgesetzes und das Gewaltverbot der UN-Charta.

– Und wenn, dann endlich Sondervermögen für den sozialen Zusammenhalt, für unsere Heimat und für den Frieden – nicht nur für militärische Abenteuer.

Unser Land braucht keine Panzerpatenschaften – es braucht eine Sozialdividende, eine Bildungsoffensive und ein echtes Infrastrukturpaket. Und es braucht den politischen Mut, sich dem Rüstungswahn zu widersetzen.

Denn Frieden wird nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen – sondern in der Schule, in bezahlbaren Wohnungen, im Miteinander unserer Gemeinden und auf dem Spielplatz.

Ich hoffe sehr, dass viele Kolleginnen und Kollegen in der Politik – aber auch alle, die hier zuhause sind – diese Einsicht teilen und sich anschließen.

Mit nachdrücklichen Grüßen

Thomas Gens

Bürgermeister der Insel Hiddensee

1 Kommentar

  1. Aufrüsten mit Angriffswaffen wie Mittelstreckenraketen und Panzern gegen eine große Atommacht ist Irrsinn. Wir drohen damit mit globalem Selbstmord.
    Dazu ist Russland auf Grund seiner Geschichte bereit (1).
    Wir sind laut GreenPeace (2) als Europäische Natostaaten Russland gegenüber jetzt schon überlegen, aber im Fall eines „Sieges“ droht dieser Selbstmord. Wozu uns dann hoffnungslos verschulden? Wir sollten zu bewährter (Willy Brandt) Diplomatie zurückkehren.
    1. https://afsaneyebahar.com
    2. Greenpeace-Studie: Wann ist genug genug? (Februar 2025)  https://www.greenpeace.de/frieden/kraeftevergleich-nato-russland

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