Kanalgeschichten oder die Verschiebung von Wahrheit (Teil 11)

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Es gibt vielleicht spannendere Geschichten in einer zu schreibenden Geschichte der Geschichten. In der Epik reisen Helden durch den Abenteuerraum, im Roman Heldinnen durch Lebens- und Weltzeit, treiben im Strom des Bewusstseins …. hier treiben wir im Strom der städtischen Abwässer von Braunschweig und beobachten gebannt, wie er beherzt einen Gierfinger in den güldenen Schlamm der Kanäle hineinsteckt und einen Goldfinger wieder herauszieht. Was für ein kühner Griff und welche Beute: mehr als 100 Millionen Euro! Aber Geld stinkt eben manchmal doch, wird er spätestens dann merken, wenn er auf der Suche nach neuen, unerschlossenen Schätzen mit dem vergoldeten Gierfinger einmal in der Nase bohren sollte – diese Vermutung sei hier gewagt.

Zur Erinnerung an unsere letzte Folge: Der Oberbürgermeister der Stadt Braunschweig, Dr. Gert Hoffmann, behauptete wiederholt, dass es nie eine Beitragssatzung für die Stadtentwässerung von Braunschweig gegeben habe, die Nutzer und Gebührenzahler also für den Bau des Kanalnetzes satzungsgemäß nie einen finanziellen Beitrag geleistet hätten.

Nachweislich gab es aber immer Beitragssatzungen, seit das erste Entwässerungsstatut 1888 in Kraft trat. 1923 wurde das Statut insofern geändert, wie von dieser Zeit an die Nutzer und Gebührenzahler sogar zu 100 Prozent für den Bau der Kanäle aufzukommen hatten. Neben einmaligen Beiträgen zur Erstellung der Anlagen geht es hauptsächlich um regelmäßig wiederkehrende Beiträge, die im Gebührenbescheid enthalten sind für die übernahme von Zins- und Tilgungsverpflichtungen aus den Investitionskrediten.

Das ist von weitreichender Bedeutung. Denn nur, wenn die Kommune selbst aus dem ordentlichen Steuerhaushalt den Bau des Entwässerungssystems finanziert hätte, ließe es sich rechtfertigen, dass Dr. Gert Hoffmann mehr als einhundert Millionen Euro aus dem Gebührenhaushalt für den ordentlichen Haushalt vereinnahmen kann. Anderenfalls müsste das Geld im Gebührenhaushalt bleiben, sei es für die Anlage von Rücklagen für zukünftige Investitionen, sei es zur direkten Entlastung der Gebührenzahler durch eine Gebührensenkung.

Alles spricht auch dafür, dass die Statuten eingehalten wurden und die Kosten für den Bau der Kanäle tatsächlich über verschiedene Zahlungsmodalitäten zu 100% auf die Beiträge der Nutzer abgewälzt wurden:
– teils durch direkte Beteiligung der Nutzer mit einmaligen Beiträgen,
– teils durch die Bezahlung meist jährlich abgerechneter, periodisch wiederkehrender „Beiträge“ zum Abtrag der Zinsen und Tilgungen von Darlehen, und
– teils auch durch Anhäufung von Rücklagen, die dann bei erhöhtem Finanzbedarf in Anspruch genommen werden konnten, um größere Gebührenschwankungen auszugleichen.

Schauen wir uns beispielhaft den Entwässerungshaushalt von 1957 an, der noch den Bestimmungen des Statuts von 1888 unterworfen war. Es gab einen ausgeglichenen Haushalt mit Einnahmen und Ausgaben von 2.650.779,08 DM. Aus dem städtischen Steuerhaushalt wurde kein Geld zugeführt, allein die Nutzer kamen für Unterhalt und Bauinvestitionen auf. Zu den Einnahmen gehörten auch 12.120,36 DM Zinsen aus Rücklagen. Es wurden also auch schon unter der ersten Satzung Rücklagen aus Beiträgen angelegt, auch wenn im Statut von 1888 (mit der Änderung von 1923) die Modi der Finanzierung nicht festgeschrieben sind.

Ausgegeben wurden 1957 neben den Betriebskosten unter anderem
– 307.175,76 DM für Zinsen und
– 197.196,47 DM für die Tilgung von Darlehen – Beiträge im Sinne heutiger Rechtssprechung, mit denen der Bau der Kanäle finanziert wurde. Dazu wurden auch noch
– 608.552,09 DM an die Rücklage überführt und es floss zusätzlich direkt Geld aus dem ordentlichen Entwässerungshaushalt in Kanalbaumaßnahmen, die dann eben nicht über neue Darlehen oder die Inanspruchnahme von Rücklagen finanziert werden mussten:
– 71.548,01 DM flossen in die Erneuerung und Erweiterung von Straßenkanälen,
– 438.000,00 DM in den Neubau von Entwässerungskanälen und
– 114.838,96 DM wurden für die Ausführung von Straßensinkkästen und Hausanschlüssen verwendet.

Allem Anschein nach wurde ordentlich gewirtschaftet, und soweit es Zuschüsse von Bund, Land und auch Beiträge aus dem ordentlichen Haushalt gab, deutet nichts darauf, dass diese Beiträge den jeweiligen Anteil überstiegen, von
– Bundesstraßen und Einrichtungen des Bundes,
– Landesstraßen und Einrichtungen des Landes, sowie von
– kommunalen Straßen und städtischen Einrichtungen wie der allgemeinen Verwaltung, Schulen und Krankenhäusern.

Das Statut von 1888 behielt mit der Änderung von 1923 seine Gültigkeit bis in das Jahr 1961. Mit dem 21. November 1961 wurde dann eine neue „Satzung über die Abwasserbeseitigung der Stadt Braunschweig“ beschlossen, die am 1. Januar 1962 in Kraft trat. Geändert wurde mit dem Statut von 1961 der Maßstab für die Bemessung des Anteiles der einzelnen Nutzer an den Gesamtkosten.

Zuvor wurde – nach § 11 des Statuts von 1888 – der Anteil einzelner Nutzer nach dem Wert ihres angeschlossenen Grundstückes bemessen: „Die Beiträge der grundsteuerpflichtigen Wohnhäuser bemessen sich nach dem Verhältnisse ihre Grundsteuercapitals“ oder ersatzweise nach ihrem Nutzwert: „nach dem Verhältnisse der Hälfte ihres Miethwerths“. Für Betriebe und Fabriken, deren Abwasserbeseitigung besonderen Aufwand erforderte, wurde die Vergütung dieses Aufwandes – nach § 10 des Statuts – vom Stadtmagistrat alljährlich gesondert festgelegt: „Gewerbliche Etablissements, insofern das Maaß oder die Art ihrer Abwässer die Herstellung oder Unterhaltung der Canäle unverhältnismäßig vertheuert oder die Benutzung der letzteren in einem bedeutenden Grade erforderlich macht, sind in dieser Hinsicht zu besonderen Beiträgen verpflichtet.“

Nach 1961 wurde dann das Verursacherprinzip auch allgemein stärker zur Grundlage der Gebührenerhebung: „Die Benutzungsgebühr wird nach der Abwassermenge des angeschlossenen Grundstücks berechnet“ – legt § 12, Abs. 1 der neuen Abwasserbeseitigungssatzung fest.

Nicht mehr der Wert der angeschlossenen Grundstücke war damit maßgebend, sondern die Abwassermenge, die dem städtischen Kanalsystem zugeführt wurde. Da sich die Menge des tatsächlich eingeleiteten Schmutzwassers meist schwer messen lässt, wurde statt dieses „Wirklichkeitsmaßstabes“ seit 1962 mit einem Ansatz entsprechend dem Frischwasserverbrauch hilfsweise auch ein „Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ für die Erhebung der Abwassergebühren eingeführt.

Die Änderung von 1961 betraf nicht das „Deckungsprinzip“ der Gebühren- und Beitragserhebung. Nach wie vor hatten die Nutzer nicht nur für den Unterhalt, sondern auch zu 100% für den Bau der Kanäle aufzukommen. Die Eigenschaft der Satzung als „Beitragssatzung“ im Sinne des Gesetzes wurde mit § 11, Abs. 1 nicht aufgehoben, sondern präzisiert und bekräftigt (meine Hervorhebung):

Für alle an die Stadtentwässerung angeschlossenen Grundstücke werden zur Deckung der aufgewendeten Beträge für die Verwaltung, den Betrieb, die Unterhaltung und Erneuerung der Stadtentwässerung, für die Bildung von Erneuerungsrücklagen sowie für die Verzinsung und Tilgung des Anlagekapitals und für die Mitgliedschaft im Abwasserverband Braunschweig Benutzungsgebühren erhoben. Für die Ableitung des Niederschlagswassers von öffentlichen Straßen und Plätzen trägt die Stadt 5 v. H. dieses Aufwandes.

Fortsetzung folgt

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