Vor gut 15 Jahren hat Altkanzler Helmut Schmidt der Frankfurter Allgemeinen ein Interview gegeben. Seitdem, aber in Anfängen auch schon davor, hat sich die deutsche Außenpolitik immer mehr von bewährten Grundsätzen entfernt und erntet dafür nun ein Desaster nach dem anderen. Viele haben angesichts dieser Entwicklung ein mulmiges Gefühl. Dieses Gefühl wandelt sich zu Ärger und vielleicht sogar Wut, wenn man das Interview vom 8. Dezember 2008 liest. Warum? Weil Schmidt schon damals Positionen vertreten hat, die uns Vieles erspart hätten, wenn sich unsere Politik daran gehalten hätte. Hat sie aber nicht, im Gegenteil.
Bundeswehr in Afghanistan: „Was will der Westen in Afghanistan?“
Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel. 2001 schickte die Bundesregierung Soldaten nach Afghanistan. Sie blieben 20 (!) Jahre, im Jahr 2021 wurde sie sozusagen hinausgeworfen von den Taliban. Helmut Schmidt kritisiert schon 2008, dass sie immer noch da waren. Im Jahre 2001 habe man sich dem nicht entziehen können, meint er. Es sei darum gegangen, der terroristischen Organisation Al Qaida den Boden zu entziehen, was durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats völkerrechtlich gedeckt gewesen sei. Aber nun, im Jahr 2008, wo dieser Auftrag längst erfüllt war, fragt Schmidt: „Was ist der gegenwärtige Auftrag?“ und: „Was will der Westen in Afghanistan?“ Die Taliban bekämpfen, antworten die FAZ-Journalisten, und einen einigermaßen funktionierenden Staat aufbauen. Gnadenlos zerpflückt Schmidt diese Argumentation, weist darauf hin, dass die USA selber die Taliban unterstützt hätten („noch gar nicht so lange her“) und dass es einen einigermaßen funktionierenden afghanischen Staat noch nie gegeben habe; und wenn man die Taliban bekämpfen wolle, müsse man eigentlich im Atomwaffenstaat Pakistan intervenieren, wo sich die Taliban aufhielten, und das verbiete sich aus verschiedenen Gründen. Er schließt seine Überlegungen mit dem Satz ab, es sei relativ leicht, in ein Land zu intervenieren, aber ungleich schwieriger „wieder rauszukommen“.
Heute wissen wir, dass er Recht hatte. Nachdem 45 Milliarden Euro an Steuergeldern verpulvert waren, 59 Bundeswehrsoldaten getötet und Hunderte verletzt wurden – von den Opfern auf afghanischer Seite gar nicht zu reden. Das gesamte Militärunternehmen war ein Desaster, ohne positive „Nebenwirkungen“. Die verschiedenen Bundesregierungen hatten sich fortgesetzt blauen Dunst vorgemacht, sprachen noch wenige Monate vor dem Rauswurf von einer erfolgreichen Entwicklung und hofften, dass ihre Wunschvorstellungen Realität würden. Und die Medien übten keinerlei kontrollierende Wirkung aus. „Vierte Gewalt“? Fehlanzeige.
Soll Deutschland überall in der Weltpolitik mitmischen?
Den Journalisten gefallen diese Antworten nicht. Sie fragen, ob die Deutschen „keinen Beruf zur Weltpolitik“ haben. Schmidt:“Warum sollten wir ihn haben?“ Die Antwort: weil wir eine Welthandelsmacht seien. Schmidt: „Das ist Holland auch.“ Die Journalisten kritisieren, er wolle eine Selbstbeschränkung Deutschlands auf europäische Politik. Schmidt lehnt den Ausdruck „Selbstbeschränkung“ ab und führt dann eine längere Begründung für die Konzentration auf Europa an:
„Ich habe wenig Verständnis dafür, dass deutsche Politiker sich zu Problemen innerhalb anderer Staaten äußern, weit weg von hier, ob es sich um die Russische Föderation handelt und den Bürgerkrieg innerhalb der russischen Grenzen oder ob es sich um Tiflis handelt, um Georgien, oder ob es sich um Tibet handelt.“
Er fährt mit einem zutiefst ironischen Satz fort, um zu zeigen, wie abwegig dieses Verhalten aus seiner Sicht ist:
„Aber wir sind offenbar eine so große und unabhängige Weltmacht, dass wir uns laut hörbar sogar äußern über Vorgänge in Moskau oder in Peking.“
Aber wir äußern uns doch nur dort, wo elementare Menschenrechte verletzt werden, antworten die Journalisten. Schmidts trockene Antwort: „Und Guantanamo?“ Und er weist darauf hin, dass eines der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts „die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten“ sei. Er habe zwar große Sympathien für die Menschenrechte, aber oft würden im Namen der Menschenrechte „in Wirklichkeit politische Ziele verfolgt .. , um nicht zu sagen strategische Ziele“. Als Beispiel nennt er Georgien: „Das ist ein Fall, wo humanitäre Motive und imperialistische und strategische Motive sich miteinander vermischt haben.“ Und er bezieht das im Kern auf den Westen, ohne abzustreiten, dass „die Russen dann ihrerseits ein paar Tage später ebenfalls eine Grenze überschritten haben.“
Die Journalisten fragen fast empört, ob er es denn für normal halte, dass eine Großmacht wie Russland eine bestimmte Einflusssphäre für sich reklamiere. Schmidts nüchterne Antwort:
„Großmächte haben Einflusszonen. Das ist eine Tatsache der Weltgeschichte. Das gilt für Amerika, es hat gegolten für England, Frankreich, für Holland, Spanien, für Portugal, es gilt für China und Russland. Das braucht man nicht zu reklamieren oder zu proklamieren.“
Auf die Frage, wie man mit Problemen neuer Staaten, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion oder Jugoslawiens entstanden seien, vernünftig umgehen könne, antwortet Schmidt, er wisse es nicht. Dann aber wieder sehr klar: „Vor allen Dingen würde ich meinen, dass das die Deutschen relativ wenig angeht.“
Schmidt kritisiert, dass man im Überschwang nach dem Ende des Kalten Krieges Möglichkeiten gehabt hätte, die man nicht genutzt hat. Er spielt auf die seiner Ansicht nach überstürzte Aufnahme zu vieler Länder in die EU an, aber auch darauf, dass man sie ebenfalls in die NATO integriert habe: „Wenn wir Staaten wie Estland, Finnland, Litauen oder die Slowakei in die EU aufnehmen, macht es dann Sinn, sie gleichzeitig in die NATO aufzunehmen? Oder umgekehrt, wenn wir sie in die NATO aufnehmen, reicht das nicht?“
Vielleicht macht man es sich zu einfach, wenn man sagt, dass Schmidts Positionen den letzten zwei Außenministern Maas und Baerbock in den Ohren geklingelt haben müssen. Jedenfalls haben sie sich meilenweit davon entfernt, aber eben nicht nur sie, sondern ihre Parteien wie auch die CDU und die FDP. Wer heute Schmidt´sche Positionen vertritt oder auch nur für diskutierenswert hält, stößt bei ihnen auf aggressive Ablehnung. Obwohl doch immer deutlicher wird, dass die vermeintlich „richtigen Positionen“ erheblichen Schaden für uns alle angerichtet haben. Und das nicht nur im Beispiel Afghanistan.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Dezember 2008, Interview: „Es fehlt an persönlicher Führungskraft“
Ich bilde mir ein, (wie bei Kujat) das im Kalten Krieg gewachsene Verantwortungsbewusstsein heraus zu hoeren – blanke, kuehle Vernunft.
Und denke ich an Veranstaltungen der Lokalpresse, scheint man dort eher an amerikanischen thinktanks a la Council on Foreign Relations (USAID?) zu haengen, als an den Analysen alter Bundeskanzler (s.o.).
Sogar jemand, mit dem ich sonst nix anfangen kann wie Helmut Kohl (immerhin ein Europaeer), oder auch Angela Merkel – ‚Zeitenwende‘? Alles falsch? Alles ueber Bord werfen und den Amerikanern hinterher – wie jetzt die AfD?
„360 Grad-Wende“ 🙂 ?
DLF vom 12.2.:
Baerbock nennt Gespräche über Ende des Ukraine-Krieges „überfällig“ … sagte am Rande eines Treffens mit mehreren europäischen Amtskollegen in Paris, anders als der russische Präsident sei man bereits seit drei Jahren dafür bereit gewesen.
[Zitatende]
Wie meint sie das? ‚… aber erst musste die halbe Ukraine weg sein‘ ? Oder ‚… erst mussten wir Waffen liefern‘ ?
Vermutlich ‚… erst mussten wir versuchen, Russland platt zu machen‘.
Was ist damals bei den Verhandlungen bei Minsk passiert? Welche Rolle spielte Boris Johnson bei seinem Besuch in der Ukraine?
Und wenn Johnson, May, … nun Starmer immer dasselbe machen, auf wessen Mist waechst diese Politik?
Wer hat das Sagen in Whitehall und Downing Street 10 ?
Oder ist alles ganz normal, Putin ist die Schuld, und das sind nur dumme Fragen?
Seit dem die Transatlantik-Lobbyisten von der Atlantik-Brücke, ATLANTIC Council, Aspen-Institute u.a. die Außenpolitik der Bundesrepublik bestimmen, hat das eigenständige Denken unserer Regierenden aufgehört zu existieren. Außen- und sicherheitspolitisch haben wir keine eigenständige Strategie, sondern sind Erfüllungsgehilfen der US-Geopolitiker. Viele unter uns glauben immer noch, die USA seien unser Freund und enger Verbündeten in unserer wertebasierten Ordnung. Aber die USA haben keine Freunde, sondern nur wirtschaftliche und machtpolitische Interessen, die wir zurzeit mit dem Kauf von US-Fracking-Gas und Rüstungsgütern zu befriedigen suchen. Haben wir die Kriege des US-Imperiums vergessen?