90 Prozent

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Foto: GG-Berlin  / pixelio.de

Die Meldung ging vor einigen Wochen, etwa Anfang Mai, durch die Medien: Zwei renommierte Harvard-Ökonomen hätten sich „verrechnet“ bei der angeblichen Auswirkung von Staatsschulden auf das Wirtschaftswachstum eines Staates. Die Meldung war nicht sehr auffällig platziert und erregt allenfalls Aufmerksamkeit, weil es ein einfacher Student war, der den Professoren  Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart einen nachlässigen Umgang mit der Statistik nachgewiesen hatte.

Dass es sich hier um eine Affäre mit europaweitem Hintergrund handelte, wurde erst jetzt einem größeren Publikum deutlich, als die Wochenzeitung „Die ZEIT“ vom 27. Juni 2013 drei Seiten ihres Dossiers der minutiösen Aufarbeitung jenes „Rechenfehlers“ zur Verfügung stellte. Unter der Überschrift „Verrechnet!“ kann man nachlesen, wie Thomas Herndon, der sich nur eine Semesterarbeit  hatte holen wollen, einem fahrlässigen Umgang mit Excel der beiden hochgelobten Kapazitäten auf die Spur kam.

Und wichtiger noch: Man kann nachlesen, welche Politik man in den letzten Jahren mit dieser Zahl gemacht hat. Die „wissenschaftlich bewiesene“ Behauptung lautete: Von einem bestimmten Verschuldungsgrad an, der bei 90% liegt, wirken Staatsschulden dämpfend auf die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Dieser Satz machte die Runde bei Politikern jeder Couleur: Schäuble und Steinbrück, Olli Rehn und Tim Geithner (US-Finanzminister) und diverse andere werden in der ZEIT mit der Sprechblase abgebildet, die ihre Version des verhängnisvollen Satzes zeigt Mit ihm konnten sie ihre Sparsamkeitspolitik „wissenschaftlich“ begründen und allen  politischen Auseinandersetzungen über deren Folgen den Wind aus den Segeln nehmen. Die hoch verschuldeten Südländer mussten sparen, wenn sie jemals wieder konkurrenzfähig werden wollten. Und wenn es nicht freiwillig taten, musste man sie dazu zwingen, das war die logische Folgerung aus diesem Satz: „Die 90 Prozent sind das vielleicht   klarste, das härteste Argument in der Schuldendebatte“, schreibt die „ZEIT“. Ausführlich belegt sie am griechischen Beispiel, welche verheerenden Auswirkungen dieser Satz für die Gesellschaft hat.

Aber seit dem 17. April dieses Jahres ist der „Klickfehler“ (vergessene Zahlen bei Excel) der Weltöffentlichkeit bekannt. Er wurde nicht verschwiegen, aber offensichtlich zog niemand Konsequenzen daraus. Hat man einen Widerruf der Austeritätspolitik aus Schäubles Mund gehört?

Das ist meines Erachtens der zweite Skandal. Die ZEIT meint rückblickend: „Es war, als ob die 90 Prozent eine Sehnsucht stillten. Die Sehnsucht nach einer Welt, in der es keinen Richtungsstreit, kein rechts oder links mehr gibt, sondern nur noch richtig und falsch […]“ Doch so romantisch dürfte diese „Sehnsucht“ nicht gewesen sein. Die 90 Prozent dienten als willkommenes Feigenblatt, um eine Politik durchzusetzen, die neoliberalen Prinzipien entspricht: Kürzung der Staatsausgaben, vor allem durch Bescheidung des sozialen Bereichs. Mag das gesellschaftliche Gefüge zusammenbrechen, diese Politik von unten nach oben schaufelt, wird fortgesetzt. Inzwischen ist so verinnerlicht worden, dass die Öffentlichkeit keinen  „wissenschaftlichen Beweis“ mehr dafür braucht.

Ingeborg Gerlach

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