Braunschweiger Staatsanwaltschaft erkennt Antisemitismus nicht. Jüdische Verbände empört.

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Die Justizia vor dem Gebäude der Braunschweiger Staatsanwaltschaft ohne Augenbinde und mit Menschen in der Hand. Diese Plastik von Bodo Kampmann hat der Generalstaatsanwalt und Eichmann-Jäger Fritz Bauer herstellen und anbringen lassen.

Von Joachim Gottschalk

Staatsanwaltschaft stellt Verfahren wegen Volksverhetzung durch Rechtsextremisten zum zweiten mal ein.

Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig, ein Verfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung bei einer rechtsextremen Demonstration in Braunschweig einzustellen, stößt in weiten Kreisen der Bevölkerung auf breites Unverständnis. Siehe Schreiben der Staatsanwaltschaft. Der Zentralrat der Juden in Deutschland nennt die Entscheidung skandalös, Antisemitismus werde nicht geahndet.

So sahen die Braunschweiger Staatsanwälte nichts Strafbares im Verhalten des stellvertretenden Vorsitzenden der rechtsextremen Partei „Die Rechte“, Martin Kiese, der während einer Demonstration am Volkstrauertag 2020 Journalisten als „Juden“, „Judenpresse“ und „Pack“ bezeichnet hatte. Lediglich „Pack“ sei beleidigend, doch hätten hier entsprechende Strafanträge nicht vorgelegen, bestätigte Hans Christian Wolters von der Braunschweiger Staatsanwaltschaft.

Die Worte „Jude“ und „Judenpresse“ seien schon objektiv keine Beleidigungen – ebenso wenig wie „Christ“ oder „Moslem“ –, erklärten die Staatsanwälte im 1. Verfahren, und zogen damit einen Vergleich, der nicht statthaft ist, denn der Kontext wird dabei völlig außer acht gelassen. Sicherlich sei die Aussage „Feuer und Benzin für euch“ grenzwertig, aber dies sei noch kein Grund, ein Strafverfahren zu eröffnen, denn der Tatbestand der Volksverhetzung sei sehr eng auszulegen.

Rebecca Seidler, Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover meint: „Es ist erstaunlich, wie wenig die Staatsanwaltschaft die Tragweite solcher Äußerungen würdigt“. Für Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, ist die Begründung der Staatsanwaltschaft skandalös. „Dass das Wort ,Jude’ heutzutage als Schimpfwort eingesetzt wird, weiß inzwischen leider fast jedes Schulkind. An der Staatsanwaltschaft Braunschweig scheint das jedoch vorbeigegangen zu sein“, erklärte Schuster der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ferner. „Die Einschätzung der Staatsanwaltschaft gleicht einem Freibrief für Rechtsextremisten“, so die Äußerungen im 1. Verfahren.

Franz Rainer Enste, Antisemitismusbeauftrager des Landes meint. „Wenn wir den Kampf gegen den Antisemitismus ernst nehmen, dann können wir das so nicht stehen lassen“. Der Begriff „Judenpresse“ sei zweifellos antisemitisch und suggeriere Verschwörungsgedanken, wie sie auch im Dritten Reich genährt worden seien. Man könne auch nicht die Begriffe „Jude“, „Christ“ und „Moslem“ vergleichen, ohne den Kontext hinzuziehen, in dem sie geäußert wurden. Ernste sagte: „Ich wünschte mir hier eine größere Sensibilität der Staatsanwaltschaften und werde darüber mit den Generalstaatsanwälten reden“.

In der Sache

Am Volkstrauertag 2020 hatte der Täter im krassen Antisemitismusjargon zu den ihn umgebenden Journalisten ausgerufen:„Judenpresse“ – „Judenpack“ – „Feuer und Benzin für euch“.

Die erneute Einstellung des Verfahrens gegenüber einem Vorstandsmitglied der faschistischen Kleinstpartei DIE RECHTE kann nur als unerträglich und unverständlich empfunden werden, und zwar nicht nur von Angehörigen der Ermordeten der Schoa, sondern von jedermann.

Das ist eine öffentliche antisemitische hetzerische Vernichtungsproklamation gegen das Judentum, gegen jede einzelne jüdische Person unserer Gesellschaft. Jüdische Personen mit ihrem Eigentum sollen dem Feuer überantwortet werden, so wie es schon am 9. November 1938 und danach erfolgte.

Dieser Ausruf entspringt:

1.- den judenpolitischen Empfehlungen Martin Luthers an Obrigkeiten und Pfarrherren des 16. Jahrhunderts. Die aktuelle Empfehlung „Feuer für euch“ beinhaltet entsprechend diesen Empfehlungen das Verbrennen von Synagogen, die Zerstörungvon Wohnhäusern und Schriften Unterdrückungen durch Konfiskation von Geld und Besitz, Arbeitszwang, Verbot jüdischer Gottesdienste und letztendlich der Vertreibung der Juden aus dem gesamten Land. Der Göttinger Kirchenhistoriker und Experte der Reformationszeit Thomas Kaufmann nennt die judenfeindlichen Schriften Martin Luthers “die literarische Endlösung der Judenfrage“. Bis auf den industriellen Massenmord beinhalten sie all das, was Hitler vier Jahrhunderte später in die Tat umsetzte.

2.- der Zeit nach der Reichsgründung. Seit der Antisemitenpetition 1881 wurde die demokratisch-liberal orientierte Presse der Kaiserzeit von den Antisemiten als „jüdische Presse“/“Judenpresse“ bezeichnet. Der damals anerkannte Theologe, Orientalist, Sprachwissenschaftler und Antisemit Paul Anton de Lagarde hat in der Schrift ‚Judentum‘ die jüdische Presse charakterisiert.

3.- der NS-Zeit.

Die NS-Zeit realisierte das, was schon 1887 de Lagarde in der Schrift „Juden und Indogermanen“ postuliert hatte.

4.-Der Aufrufbegriff „Judenpresse“ entspringt der Verschwörungsvorstellung, dass das Judentum die allumfassende Weltherrschaft mit seiner geheimen Macht über Politik, Finanzen, Wirtschaft und Kultur ausübt. Die vom „Judenpack“ geleitete „Judenpresse“ ist ein Instrument dieser jüdischen Weltherrschaft, gestaltet von nichtjüdischen Journalisten als ahnungslose Erfüllungsgehilfen für eine Propagierung verwerflicher jüdisch-liberal-demokratischer Gedanken.

5.-Alle jüdischen Personen wie auch die den Juden wirtschaftlich oder medial zuarbeitenden Personen, wurden durch den Täter Kiese am 15.11. 2020 herabgewürdigt – in dreifacher Weise, sowohl durch die Bezeichnung „Judenpack“, durch „Juden“ und durch „Feuer und Benzin für euch“. Drei Beschreibungen, die in ihrer Gesamtheit im Kontext des 15.11.2020 von jedermann nur als antisemitische Tötungsaufforderung angesehen werden kann: 6 Millionen Juden wurden in der Schoa ermordet.

Die Dimension von „Judenpresse“ – „Judenpack“ – „Feuer und Benzin für euch“ kann deshalb nur als Volksverhetzung bezeichnet werden. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat mit ihrer Entscheidung vom 01.02.2023 erneut verdeutlicht, die verbrecherische Dimension der Tat von Martin Andreas Kiese nicht erkannt zu haben. (Siehe die erste Entscheidung vom 21.02.2021 „Freibrief aus Braunschweig für Rechtsextremisten“)

3 Kommentare

  1. Das heisst, wenn dann eine Demo vor der Braunschweiger Zeitung „Judenpresse“ skandiert, ist es legal und keine Beleidigung?
    ‚Interessante‘ Rechtsauffassung.

    Werden diese (hin und wieder auftretenden) Ausrutscher der Justiz in Braunschweig eigentlich irgendwo dokumentiert und statistisch ausgewertet? Waer doch mal ein sehr schoenes Thema fuer eine ‚justiz-soziologische‘ Untersuchung …

  2. BRAUNschweig?
    Ist das nicht diese Stadt, in der Hitler eingebürgert wurde?
    In der Chef-NSDAP-Nazi Klagges nach dem Krieg bis zu seinem Tod ungestraft rechtsextreme Hetze betreiben durfte? In der heute mehrfach vorbestrafte rechtsextreme Gewalttäter frei herumlaufen und sogar vor dem SPD-Rathaus ungestraft die SPD verhöhnen dürfen?

  3. Brutalismus als Baustil :-).
    Aber Scherz beiseite: ein kleines bisschen stolz bin ich auf den Braunschweiger Antifaschismus.
    Wir waren eine kurze Zeit eine Raeterepublik!
    Es wurden viele ArbeiterInnen von Nazis (auch als Polizisten) umgebracht, um diesen Geist zu brechen, was ihnen nicht gelang.
    Und heute trottelt eine ‚Rechte‘ mit 10, maximal 20 Menschen aus Hildesheim oder Hannover vom Bahnhof in die Stadt u zurueck.

    Allerdings riss zB Charlotte Knoblochs Personenschuetzer Nazi-Witze im Netz; das Verwaltungsgerichte lehnte es ab, ihn aus dem Dienst zu entfernen (1).
    Ein herrschaftliches Selbstverstaendnis scheint manchmal in staatlichen Organen zu herrschen (s. Maassen), was weder republikanisch noch demokratisch ist.
    Und ein Verfassungsschutz mit einer pseudowissenschaftlichen ‚Hufeisen-Theorie‘ versucht auch nur Herrschaftsverhaeltnisse zu betonieren, wo demokratische Bildung dringend noetig ist.

    Wir haben zu tun!

    1. https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/das-vertrauen-wird-bruechiger/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

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