Braunschweig im Bombenkrieg – Band 3 erschienen

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Neuauflage von „Braunschweig im Bombenkrieg, Band 3. Die Berichte des Zuckerfabrikanten Paul Gerloff“ vorgestellt

Am Mittwoch, 12. April 2006 hat das Friedenszentrum Braunschweig um 11.00 Uhr in der Gedenkstätte Schillstraße in Braunschweig die Neuauflage des dritten Bandes seiner Reihe „Braunschweig im Bombenkrieg“ vorgestellt. Dieser beinhaltet die Berichte des Zuckerfabrikanten Paul Gerloff und wurde um weitere Zeitzeugenberichte aus den letzten Kriegstagen ergänzt. Die Vorstellung erfolgte durch die Autoren und Herausgeber Frieder Schöbel und Heinz Friedrich.

 

Die Herausgabe der Berichte Paul Gerloffs aus den Jahren 1944 und 1945 führt die Reihe „Braunschweig im Bombenkrieg“ weiter. In ihrer zeitlichen Abfolge stellen sie ein Protokoll der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges dar, wie diese aus heimatlicher Sicht erlebt wurde. Was ihnen ihre Bedeutung gibt, ist die eigentümliche Perspektive, aus der heraus sie geschrieben wurden. Es tritt dem Leser kein engagierter Widerstandskämpfer entgegen, nicht der zwischen Befehl und Gehorsam zerriebene Frontsoldat, auch nicht der allem wirklichen Leben schon ferne, in Rassenhass und Führerverehrung aufgegangene Parteimensch. Vielmehr war Gerloff ein ziemlich unabhängig denkender und handelnder Privatmensch, der allerdings auch dem damals üblichen Schicksals- und Volksgemeinschaftsdenken verhaftet war und erst spät zu einer Abrechnung mit dem NS-System gelangt.

Textauszug aus Bericht 8, „Aufkommendes Bandenunwesen“:

Die Terrorangriffe auf Braunschweig am 19.5. mittags und in der Nacht vom 22. und 23. Mai 1944 (19. u. 20. Angriff auf Braunschweig)

Die Feder sträubt sich ein wenig, wiederum über Feindstürme zu berichten, die unserer Stadt neue Zerstörungen bereitet, ihrer Bevölkerung neues Leid und neue Sorgen zugefügt haben.

Es ist kein Zweifel mehr, daß Braunschweig seitens der Feinde nunmehr zu den bevorzugt zu bombardierenden Städten gehört. Eine ausreichende Begründung ist durch die vorhandene Industrie nicht gegeben. Allerdings verdient hervorgehoben zu werden, daß auch bei diesen beiden Angriffen die innere Stadt nur in sehr geringem Maße gelitten hat, während fast ausschließlich die Stadtrandgebiete – beinahe rings um Braunschweig herum – auch dieses Mal die Angriffsobjekte waren. Und zwar wurden die Industrieviertel vorzugsweise mit Spreng-, die sonstigen Stadtteile (Wohnviertel) vorzugsweise mit Brandbomben beworfen.

Es ist schon eine üble Barbarei, die die Luft-Banditen jetzt betreiben und die sich – das scheint auch außerhalb Deutschlands langsam aufzudämmern – früher oder später rächen muß.

Es war am 19. Mai, halb eins mittags, als Vollalarm gegeben wurde. Der gesamte Gerloffshof wurde – angesichts seiner besonders gefährdeten Lage – geräumt, und das war gut so. Denn bei den folgenden Bombenwürfen wurde er wiederum – nunmehr zum vierten Male – schwer getroffen. Fünf sogenannte Industriebomben gingen in seinem Bereiche nieder, eine an der Bahnhofstraße, und zwar dort, wo unser am 20. Februar zerstörtes Wohnhaus A gestanden hatte, eine zweite zerstörte zwei Drittel des Speichers G, der als wertvolles Vorratslager der Firma Herm. Dancker diente, die dritte riß drei an der Ostseite des Speichers F stehende Garagen fort, die vierte warf die breite, hohe und starke massive Westwand des Speichers F um und riß auch in den Speicher M eine gewaltige Lücke, die fünfte krepierte wieder am Westausgang des Gerloffshofes vor dem Grundstück Frankfurter Straße 38, das, erneut zerfleddert und zerrissen, nunmehr einen todwunden Eindruck macht.

Das Bild, das sich mir beim Eintreffen nach der Entwarnung zwischen drei und halb vier Uhr nachmittags bot, war noch erschütternder als die vorherigen Male, wohl weil sich die Zer-störungen über den ganzen Gerloffshof erstreckten und eine Verbindung in der Längs- wie Querachse des Betriebsgrundstückes nur über zusammengestürzte Wände, Dächer und Decken, über aus gewaltigen Trichtern ausgeworfene Erd- und Geröllmassen möglich war. Waren die Trichter doch 15 Meter breit und vier bis fünf Meter tief. Der ganze Gerloffshof war in unvorstellbarer Weise wieder mit Trümmern aller Art – bis zu den schwersten Brocken – buchstäblich übersät. Und dazwischen verstreut über das ganze Betriebsgrundstück lagen: Hülsenfrüchte, Reis, Grieß aus den Vorräten, die zur Ausgabe in den nächsten Tagen im zerstörten G-Lager aufgespeichert waren.

Auf unserem Nachbargrundstück, den Wilke-Werken, waren 22 gleich schwere Bomben niedergegangen, die harte und schwere Gegenstände und Güter aller Art auch auf den Gerloffshof geschleudert hatten. Was darunter die großen Dächer gelitten haben, die teilweise wie ein Sieb durchlöchert sind, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Man sieht sich in dieser Beziehung einer Sisyphusarbeit schlimmen Grades gegenüber, ohne zu wissen, wie man der daraus entstehenden Arbeit bei Regen oder gar Schnee Herr werden soll.

Wie groß die den sogenannten Industriebomben innewohnende Kraft ist, mag unter anderem die Tatsache aufzeigen, daß ein auf dem benachbarten Werk abgestellter, mit schwerem Eisenmaterial beladen gewesener vierachsiger Eisenbahnlangwagen aus den Schienen gehoben wurde, um 90 Grad gedreht und dann so weit geschleudert wurde, daß er, hoch in die Luft ragend, sich zu Dreiviertel nunmehr auf dem Gerloffshof befindet. Den gewaltigen Verwüstungen stand man zunächst ratlos gegenüber, und doch mußte schnell gehandelt werden, um von den noch unter den Trümmern liegenden lebenswichtigen Gütern zu retten, was zu retten noch möglich war, solange das Wetter offen und klar blieb.

Hier konnte nur ein Masseneinsatz von Menschenkraft etwas ausrichten. Demzufolge wurde noch am Nachmittag desselben Tages eine 30 Mann starke Militärkolonne eingesetzt, die famos zupackte, die Hauptgleisstraße passierbar machte und bis zum Abend schon etwa 60 Sack Hülsenfrüchte geborgen hatte.

Mit einem gleichen Militärkommando (aber stets wechselnden Leuten) wurde am 20., 21. (Sonntag) und 22. Mai von früh bis spät mit Hacke, Säge, Schaufel, behelfsmäßigen Kranen etc. geschafft. Es gelang dadurch, etwa 65 bis 70 Prozent der Waren dem bergehohen Durcheinander der zusammengebrochenen Gebäude zu entreißen und sicherzustellen. Nachts aber wurde, da alle Läger teilweise offene Wände hatten, von Gefolgschafts-mitgliedern abwechselnd Wache gehalten. Die zahlreichen Einbrüche in der letzten Zeit zwangen zu dieser Selbsthilfe-Maßnahme, da weder Polizei noch Militär Kräfte hierfür absondern konnten.

Einige Leute (leider auch Deutsche neben Angehörigen mehrerer Nationen) sehen – da man sie stellen konnte – ihrer Strafe entgegen. Festes Zupacken und rücksichtsloser Gebrauch der Waffe sind die einzige Möglichkeit, ein aufkommendes Bandenunwesen im Keime zu ersticken.

„Selbstverständlich“ – muß man leider sagen – sind alle die Hunderte von Scheiben, die in den letzten Wochen nun schon x-mal eingesetzt worden sind und die noch frischen Kitt aufwiesen, daß er praktisch wieder verwendet werden konnte, wieder zerbrochen. Wieder sind die Türen herausgerissen, neue Risse in Decken und Wänden haben die wenigen mühsam hergerichteten Kontorräume zunächst wieder unbenutzbar gemacht. zehn Tage sind wir nun auch schon wieder ohne Telefon, Gas, Kraftstrom, Wasser – Einbußen, die lähmend auf den Pulsschlag des Betriebes wirken. Aber die offenen Wände zu schließen ist inzwischen gelungen. Wie erfinderisch werden die Menschen solcher Not gegenüber doch.
Vom Personal fehlten in den ersten Tagen viele, die selbst zu Hause schwer mitgenommen waren, so auch mein Prokurist Günther Former, dessen Privathaus in Braunschweig-Gliesmarode auch allerschwersten Schaden erlitten hatte.“

Braunschweig im Bombenkrieg, Band 3. Die Berichte Paul Gerloffs ist ab sofort im Buchhandel erhältlich. 120 Seiten, kartoniert. ISBN: 3-86573-169-4. Preis: 13 Euro.

 

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