9, 6, 0 Monate Haft: Verfahrenseinstellung am Landgericht für Demonstrantin gegen AfD-Landesparteitag

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Landgericht Braunschweig. Foto: Ines Richlick

Von Ines Richlick

Korrektur 5.12.: Der ursprüngliche Strafbefehl lautete über 9 Monate, nicht 12.

Dass sich die Gegenwehr gegen (Vor)-Verurteilungen aufgrund von Polizeiangaben nach Teilnahme an einer Demonstration gegen die AfD lohnt, zeigte sich wieder einmal am 22.11.2021 am Landgericht Braunschweig. Wegen angeblich tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und gefährlicher Körperverletzung mit einem kleinen Faltschirm (Knirps) wurde die Demonstrantin ursprünglich laut Strafbefehl zu 9 Monaten Haft mit zweijähriger Bewährungszeit sowie einer Geldstrafe von 500 EUR verurteilt und sollte jedes Verlassen Braunschweigs melden müssen. Nach Einspruch milderte das Amtsgericht Braunschweig in der Verhandlung vom 21.6.2021 die Entscheidung auf eine Bewährungsstrafe von 6 Monaten Haft ab. Das Landgericht Braunschweig stellte das Verfahren nun am Montag gegen eine Zahlung von 600 EUR vorläufig ein.

Anmerkung: Siehe dazu auch unseren Beitrag „Proteste gegen den AFD-Parteitag am 12.09.2020 in Braunschweig: Polizei handelte rechtswidrig

Die 35-jährige Erzieherin stand im Rahmen der Proteste gegen den AfD-Landesparteitag am 12.9.2020 mit ihrem aufgespannten Regenschirm mit aufgemalten Unmutsbekundungen zu der Zeit in der Emsstraße auf dem Fußweg hinter einem Beet, als sich mehrere Menschen zu einer Sitzblockade auf der Fahrbahn versammelten hatten. Vier Polizeibeamte der Braunschweiger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) schilderten am Amtsgericht mehr oder weniger gleichlautend, wie sie mit 20 Kolleg:innen die Blockierenden binden, auf Deutsch einkesseln, sollten, um weitere Blockaden zu verhindern und den Weg für die anreisenden AfDler:innen freizumachen. Die Angeklagte habe dabei im Weg gestanden und sei aufgefordert worden, zu gehen. Da sie der Aufforderung nicht nachgekommen sei, habe Kommissar Ku. sie beiseitegeschoben, woraufhin diese geschrien habe und mit einer Ausholbewegung zweimal mit dem Schirm auf Kommissar Kr. eingeschlagen und ihn an der Schulter getroffen habe. Ferner habe sie gedroht: „Ich hau Dir gleich auf die Schnauze.“

Verletzungen habe es keine gegeben – ein Attest lag folglich auch nicht vor. Als einziges Beweismittel wurde der demolierte Knirps mit flach gerundeter Kunststoff-„Spitze“ präsentiert. Nach dem vermeintlichen Angriff mit diesem gefährlichen Werkzeug habe man die Angeklagte zur Personalienfeststellung festgenommen und ihr anschließend einen Platzverweis erteilt.

Der Berliner Strafverteidiger Torsten Franz verlas eine Einlassung der Angeklagten, laut der diese auf dem Fußweg gestanden habe, als die Beamten alle dortigen Kundgebungsteilnehmenden weggedrängt hätten. Sie habe ihren Schirm zum Schutz vor sich aufgespannt gehalten, weil die Polizist:innen ohne Abstand und ohne Mund-Nase-Bedeckung die Menschen bedrängt hätten, worüber sie sich beschwert habe. Kommissar Ku. habe sie dann geschubst und auf ihren Schirm geschlagen. Anschließend sei sie festgenommen und abgeführt worden, wobei sich die Beamten hinsichtlich der weiteren Verfahrensweise hochgeschaukelt hätten: „Da machen wir noch was draus, … Widerstand, … tätlicher Angriff, .., na wenn schon, Körperverletzung, … nein, gefährliche Körperverletzung.“

Zum Glück für die Angeklagte wurde seitens der Verteidigung ein Video in den Prozess eingeführt, auf dem zu sehen ist, wie der Regenschirm nach der Festnahme noch aufgespannt und intakt war und der Angeklagten von einem der Beamten entrissen und dabei umgeklappt wurde.

Trotz dieses Beweises verurteilte Richterin Busch die Angeklagte am 21.6.2021 zu einer 6-monatigen Haftstrafe mit einer zweijährigen Bewährungszeit wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte gemäß §§ 113/114 STGB und versuchter (gefährlicher) Körperverletzung gemäß §§ 223/224 StGB, weil sie den Ausführungen der Polizisten Glauben schenkte.

Bei Verlesung dieses Urteils am Landgericht fiel auf, dass mit keiner Silbe eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen erwähnt wurde. Die Angeklagte war Teil einer Spontanversammlung, die unter den Schutz des Artikels 8 Grundgesetz fällt.

Ein Einschreiten durch die Polizei gegen Blockierende (oder auch Danebenstehende) ist nur im Rahmen des Versammlungsgesetzes durch Auflagen möglich. Eine Auflösung der Versammlung wäre dabei Ultima Ratio. Nach allgemeinem Gefahrenabwehrrecht ist ein Einschreiten erst nach Auflösung der Versammlung möglich („Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts“). Für eine rechtmäßige Räumung hätte die Versammlung also zuvor aufgelöst worden sein müssen. Davon war allerdings in den Zeugenschilderungen keine Rede.

Des Weiteren wurde der Angeklagten nach Personalienaufnahme ein Platzverweis erteilt. Diese Maßnahme nach Polizeiordnungsrechts ist bei einer Versammlung gemäß Versammlungsgesetz nicht zulässig, sofern die Versammlung nicht aufgelöst wurde.

Auf welcher Rechtsgrundlage die Teilnehmenden weggeschubst und die Blockierenden eingekesselt wurden sowie der Angeklagten ein Platzverweis erteilt wurde, blieb somit ungeklärt. Ferner unterblieb die Berücksichtigung einer erforderlichen Belehrung der Angeklagten vor Ausführung unmittelbaren Zwanges. Somit dürften erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen bestehen.

Eine Verurteilung wegen Widerstands oder tätlichen Angriffs gemäß §§ 113/114 StGB ist jedoch nicht möglich, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig war.

Die Vorführung des Videos am Landgericht hinterließ nicht nur bei Richterin Engemann, sondern auch bei den beiden Schöffinnen sichtlich Zweifel an den polizeilichen Schilderungen.

Sehr eindrucksvoll und zur Erheiterung aller Anwesenden demonstrierte Rechtsanwalt Franz mit einem vergleichbaren Regenschirm, was passiert, wenn man mit diesem mit einer Ausholbewegung in die Luft schlägt: Er öffnet sich sofort in umgeklappter Form.

Noch bevor Rechtsanwalt Franz zuvor genannte Fragen nach der Rechtsgrundlage für das polizeiliche Vorgehen vorbrachte, wies die Vorsitzende bereits auf die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung wegen geringer Schuld gegen Auflagen gemäß § 153 a StGB hin. Zu den Fragen der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen verwies sie z. B. auf die Rechtswidrigkeit des „Braunschweiger Kessels“ von 2005.

Nach längerer Beratung mit ihrem Verteidiger erklärte die Angeklagte ihre Zustimmung zu einer Verfahrenseinstellung gegen Zahlung von 600 EUR in Raten innerhalb von 6 Monaten, um eine lange Beweisaufnahme mit ungewissem Ausgang zu vermeiden. Zudem gehen bei der Einstellung die Verfahrenskosten zulasten der Staatskasse. Zuletzt stimmte auch die Staatsanwältin einer Einstellung zu. Die 600 EUR sind einvernehmlich an die Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel zu zahlen.

Vor dem Gerichtsgebäude bekundeten gut ein Dutzend Menschen mit großem Transparent ihre Solidarität und empfingen dort nach Verhandlungsende die sichtlich erleichterte Antifaschistin.

Nachtrag 4.Dezember:

Jetzt meldet mir die Betroffene, dass die ursprünglich gemeldeten 12 Monate Haft laut Strafbefehl tatsächlich nur 9 Monate waren. Der Rest stimmt.

2 Kommentare

  1. Glückwunsch für den sehr fundierten Artikel von Ines Richlick mit großer juristischer Kompetenz. Ausserdem auch noch gut und verständlich geschrieben. Fazit: Rechtsmittel gegen Urteile des AG Braunschweig (nicht nur der Amtsrichterin Busch) können der Wahrheits- und Urteilsfindung dienen.
    Bin mal gespannt, ob der „Zeuge“ Kommissar Ku. und seine Gehilfen nun wegen Falschaussage drankommen.

  2. Moin Klaus,

    vielen Dank für Deine lobenden Worte. Kommissar Ku. & Co werden garantiert nicht belangt werden. Ich habe in Braunschweig selbst am Amtsgericht schon Verhandlungen dieser Art erlebt, in denen z. B. ein Richter bei einer wiederholten Aussage eines Polizisten in solch einer geschlossenen Einheit diesem vorhielt, dass seine Aussage klar im Widerspruch zum Video-Beweis stünde. Eigentlich müsste der anwesende Staatsanwalt dabei schon die Griffel spitzen, aber es passiert nichts.

    Wenn überhaupt einmal ein Ermittlungsverfahren gegen Polizist:innen eingeleitet wird, wird dieses in Deutschland i. d. R. zu rund 97 bis 98 % eingestellt, in nur ca. 1 % kommt es zu einer Verurteilung. Der Staat will sich partout nicht angreifbar machen.

    Eines der traurigsten und skandalösesten Beispiele ist z. B. der Tod von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte bleiben seit nunmehr fast 17 Jahren bei der Behauptung, Jalloh hätte sich an Händen und Füßen gefesselt selbst angezündet, obwohl Gutachten das Gegenteil beweisen.
    https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/

    Viele Grüße

    Ines

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