Erich Vad, Sevim Dagdelen (MdB) und Martin Burghartz in der Magnikirche

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Das Podium war in der Magnikirche prominent besetzt. Von Links: Dr. Erich Vad, Sevim Dagdelen, Dr. Christoph Krämer, Martin Burkhartz

Podiumsdikussion zum Konflikt und den Friedenschancen in der Ukraine

Es war ein großer Abend. Dass er in dieser Form möglich wurde, war Pastor Böger geschuldet, der seine Magni-Kirche öffnete, um die Friedensveranstaltung zu ermöglichen. So sollte Kirche auch verstanden werden!

Eingeladen hatte die ärztliche Friedensorganisation IPPNW, das Friedensbündnis und das Braunschweiger Friedenszentrum und eben die Magni-Kirche. Das Thema „UKRAINE: VERHANDLUNGEN JETZT! und die Experten auf der Bühne sorgten dafür, dass die Kirche voll war, denn die Experten hatten was zu sagen.

Auf dem Podium saßen  Dr. Erich Vad, Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr

                                   Sevim Dagdelen, MdB des Bundestages, Die Linke

                                   Martin Burghartz, Kommunikationsexperte

Der Moderator         Christoph Krämer von der IPPNW

Pastor Böger begrüßt seine Gäste (Foto: Corinna Senftleben)

Aufzeichnung der Veranstaltung

Pastor Böger öffnete die Magni-Kirche für die Podiumsdiskussion. Er stellte schon in seiner kurzen Begrüßung die fragende Forderung: Verhandlungen jetzt!? Seine Begründung ließ Zweifel nach dem richtigen Weg erkennen: Er sieht die Risse in der Gesellschaft über die Frage nach dem Umgang mit dem Krieg. Wie können oder sollen wir helfen: mit Waffen oder ohne Waffen? Und nicht Schweigen hilft einen gangbaren Weg zu finden, sondern nur das miteinander Reden.

Burghartz wies zu Beginn darauf hin, dass der Krieg nicht unerwartet kam. Er zählte die Persönlichkeiten auf, die vor dem Krieg warnten. Dabei waren prominente Namen: der ehemalige Regierungspräsident von Braunschweig Lange, Bundespräsident Steinmeier, Günther Verheugen, Gerhard Schröder und im Mai 2014 Helmut Schmidt.

Trotz des Propaganda-„Dauerfeuers“ der Medien wünschten sich 55% der Deutschen mehr und intensivere diplomatische Anstrengungen Deutschlands; im Osten der Republik sogar drei Viertel der Bewohner. Das heißt: Wir sind der Mainstream! Die Mehrheit der Deutschen wollten keine Waffenlieferungen. Die Skepsis der Menschen wüchse mit der geografischen Nähe des Eskalationsrisikos. Bei dem Raketenbeschuss auf polnisches Staatsgebiet stünde die Frage nach dem Bündnisfall in Diskussion. Die NATO-Staaten wären erst in der Lage gewesen zu reagieren, als Präsident Biden eine Entscheidung traf und klarstellte, dass die Raketen Irrläufer aus der Ukraine gewesen wären und der §5 des NATO-Statutes nicht berührt wären.

Vad: Der Vorfall zeigt die gefährliche Eigendynamik eines solchen Zwischenfalls. Es ist gut, dass die Politiker weltweit kommunizieren. Er, Vad, sei nicht gegen die Unterstützung der Ukraine mit Waffen zur Verteidigung ihres Landes. Er betonte aber, dass sie gezielt einzusetzen sind. Die heutige Kriegsrhetorik in fast allen Medien erinnere ihn an 1914. Vad betonte: Nur die Politik beendet den Krieg, nicht die Waffen.

Natürlich verfolge auch er die aktuelle Debatte in Washington, nach der der Krieg in und von der Ukraine nicht zu gewinnen ist. In dem Zusammenhang erwähnte er die Ausführungen des Generalstabchefs Mark Milley. Auch die USA streben Verhandlungen an, so Vad: Es sei Zeit für Verhandlungen angesichts von 200 000 gefallenen Soldaten und 50 000 getöteten Zivilisten. Die Schlüssel lägen in Washington und in Moskau. Erdogan hat bewiesen, dass man verhandeln kann, wenn man wolle. Vad setzt auf den heißen Draht Moskau-Washington. Er kritisierte die emotionalen Diskussionen, ausgelöst durch den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk. Er betonte, dass Nuklearwaffen keine Mittel der Kriegsführung sind. Der anschließende Fallout verhindere jegliche Operationen im Kriegsgebiet.

Dagdelen: Sie dankte zunächst Pastor Böger für die Gastfreundschaft. Das hätte Vorbildcharakter.

Nach neun Monaten Krieg gebe es immer noch Waffenlieferungen an die Ukraine, um einen „Siegfrieden“ zu erreichen.  Dabei brauchen wir einen „Kompromissfrieden“. Dieser Krieg sei ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland; nicht die Ukraine kann entscheiden, wann der Krieg zu Ende sein wird. Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland  finden schon jetzt statt: Es gibt den Gefangenaustausch und das Getreideabkommen. Die Schwierigkeiten entstünden woanders: So sanktioniere die EU die in Drittweltstaaten dringend benötigten Düngemittel und verhindere das Auslaufen dieser Schiffe. Das hätte Eskalationspotential. Russland will die Neutralität der Ukraine. Der Westen hätte die Wirkung der Sanktionen falsch eingeschätzt. Sie führten in einen Wirtschaftskrieg. Die Preise für Gas seien durch das Abschalten der Pipelines als Folge der Sanktionen massiv gestiegen und Russland verkaufe an andere Länder zu hohen Preisen.

Ausführlich geht sie, ebenso wie General Vad, auf die gezielten und andauernden Falschmeldungen nach dem Raketenvorfall an der polnischen Grenze ein, die fast den Bündnisfall ausgelöst hätten.

Der Westen leide unter den Sanktionen und nun kaufen wir auch noch das sehr teure LNG ein, das extrem klimaschädliche Gas aus den USA und außerdem von Autokraten im Nahen Osten.

Unverständlich sei die folgende Position des Westens: Erst wenn sich Russland aus allen Gebieten der Ukraine zurückzieht, einschließlich der Krim, wären Verhandlungen möglich.

Die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sei eine rote Linie für Russland, es sei Russlands strategisches Interesse, so wie die Karibik für die USA. Die Kuba-Krise zeige es vergleichbar; die Schwarzmeerflotte, die auf der Krim stationiert sei, sei für Russland nicht verhandelbar. Genauso wie für China hinsichtlich Taiwan das chinesische Meer nicht verhandelbar sei.

Vad bedauerte, dass es in Deutschland kein strategisches Denken gebe und auch keine strategische Kultur. Überrascht sei er über die massive Kriegsrhetorik in Deutschland.

Eine Hypermoral gebe es in Deutschland, die eigentlich eine Doppelmoral sei. Dieses Moralisieren verhindere eine realistische Außenpolitik. Sie verhindere auf diplomatische Lösungen zu orientieren.

Vad betonte, dass die Sicherheit Europas ohne die USA nicht gegeben wäre. Deutschland wäre ohne die USA schutzlos. Es gebe auch keine Bereitschaft unter den jungen Leuten zu kämpfen. Die Bundeswehr ist zugunsten der Ausgaben für die Auslandseinsätze in ihrer Aufgabe als Verteidigungsarmee maximal verringert und kaputtgespart worden. Die vorgesehenen 100 Milliarden für die Bundeswehr seien notwendig.

Dagdelen lehnt eine Militarisierung Deutschlands ab! Eine Sicherheit kann es nur mit Russland geben. Deutschland brauche das Geld für Soziales und für das Gesundheitswesen. Deutschland brauche eine aktive Nachbarschaftspolitik wie unter Willy Brandt. Die Geografie ließe sich nicht ändern! Die Bundeswehr dürfe nur zur Landesverteidigung ausgerüstet werden!

Dagdelen ging auch auf die Medien ein. Sie sieht in der Ukraineproblematik eine Diskrepanz zwischen der Mehrheit der Politiker im Bundestag, der Bevölkerungsmehrheit und der Meinungsmache der Medien. Auf einer Außenministertagung der NATO-Staaten seien die deutschen Medien sehr von den USA gelobt worden! Ohne deren Berichterstattung hätte es die Zeitenwende bei der Bewaffnung der Bundeswehr nicht gegeben. Um diesen Zusammenhang besser zu verstehen, verwies Sevim Dagdelen auf die Satiresendung „Die Anstalt“ vom 22.05.2018., die die Verflechtung der deutschen Medien mit den Thinktanks der US-Regierung und der Exekutive aufzeige.

Was ist los mit Europa?

Vad: Es gäbe die geopolitischen Einflussnahmen von Seiten der USA, aber auch eine erhebliche Uneinigkeit innerhalb Europas. Die Staaten Osteuropas hätten Angst vor Russland, sie suchten den Schutz durch die USA. Die USA hätten die Schutzrolle übernommen. Die Mittelmeeranrainer hätten eine andere Sicht auf Russland und sähen Russland eher als Handelspartner.

Die Gespräche und Begegnungen seien eingefroren. Wäre es unter Angela Merkel anders gelaufen? Merkel meinte vor kurzem in Goslar, man solle Russland zurückholen.

Der Krieg kam in dem Moment, an dem die neue Regierung gerade erst aufgestellt worden war, Frankreich stand vor den Wahlen. Niemand von Gewicht sprach für Europa. Großbritannien fiel aus Europa raus und die Rolle Johnsons war zweifelhaft. Der Krieg kam in dem „Moment“, an dem keiner mehr für Europa sprach.

Friedensmöglichkeiten?  Spätsommer-Initiative des Vatikans

Vad: Die Ukrainer hätten eine örtliche Überlegenheit gezeigt, die von Politik und Medien als Siege der Ukraine ausgelegt wurden. Aber es gibt keine Chance auf einen Sieg in dem Sinne, dass die Ukraine Russland etwas diktieren könne. Die militärische Auseinandersetzung wird auf einen Abnutzungskrieg hinauslaufen. Es sei kein militärischer Sieg über Russland möglich. Russland sei die stärkste Nuklearmacht der Welt und sie würden Atomwaffen einsetzen, wenn die Krim fallen sollte. Das militärische Personal sei unendlich, fehlende Waffen und Munition produzierten sie nach.

Im März/April 2022 fand fast eine Einigung zwischen den kriegsführenden Parteien Ukraine und Russland statt, die durch die NATO verhindert worden sei (Boris Johnson). Ein Waffenstillstand und Verhandlungen sind auch jetzt möglich; nur unter deutlich schwierigeren Bedingungen und unter Mitwirkung der USA.

Burghartz erinnert daran, dass die USA das Interesse an dem Krieg verloren haben, weil der Krieg nicht zu gewinnen sei und verweist auch auf die Aussagen von General Mark Milley. Er geht auf Anfrage auf die Nordstream-Sprengungen ein, ebenso wie Frau Dagdelen, die eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt hatte. Es gab keine Antwort. Es gäbe nur Vermutungen um die Täterschaft aber keine Beweise und keine Auskünfte.

Dagdelen äußert sich hinsichtlich Waffenlieferungen dahingehend, dass Waffenlieferungen den Frieden eher behinderten. Sie unterstützt die Friedensinitiative des Papstes.

Sicherheit für Deutschland und Europa gäbe es nicht mit Waffen, so Dagdelen und widersprach damit Herrn Vad, der mehr Waffen forderte. Was wir bräuchten wäre eine gute Nachbarschaft mit Russland – eine aktive Friedenspolitik. Dieser Dissens in der Friedenspolitik wird von Dagdelen ausführlich begründet.

Die Veranstaltung endete mit Fragen aus dem Publikum, die im Video mit den Antworten enthalten sind.

Text: Elke Almut Dieter und Uwe Meier

2 Kommentare

  1. Ein denkwürdiger Abend, ganz bestimmt – ca 200-250 Zuschauer in der mittelalterlichen Kirche, und auf dem Podium: ein Parlamentsmtglied der Linkspartei und ein Berater einer konservativen Regierung, _gemeinsam_ Gegner einer militärischen Eskalation, und Vertreter einer politischen Lösung der Ukraine-Krise.

    Und auch bemerkenswert: kein Vertreter der Lokalpresse. Der Medienvertreter Martin Burkhartz beschrieb die Stimmung der Presse von innen, was die seltsame „eindimensionale“ (Dr. Vad) Nachrichtenlage in der Gegenwart erklärt. Das „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, das uns wie auf Schienen in Situationen führt – wie etwa der Beschuss in Polen mit ukrainischen Raketen – wo ein Krieg ‚aus Versehen‘ Nato gegen Russland nicht ausgeschlossen werden kann. Ein „Weg in die Hölle, mit guten Vorsätzen gepflastert“ (Vad).

    „Die Krise vom Ende her denken“ war auch ein Aspekt, der auftauchte: die russische Perspektive, die Hoffnung auf Entspannung nach Putins Rede im Bundestag, und im Gegensatz dazu der Zuwachs der Nato in den Jahren danach.
    Und der Blick auf eine Nato mit dem ‚Krieg gegen den Terror‘ in Afghanistan oder im Irak, mit seinen (frei erfundenen) irakischen Atomwaffen, den „Weapons of Mass Deception“ [‚Massenbetrugswaffen‘] in der UNO. Was sollte Russland von dieser Nato halten?

    Der ältere Teil der Öffentlichkeit hatte damals gegen das ‚Blut für Öl‘ demonstriert und gegen die Rohstoffkriege. Wir dürfen diesen Teil der Vorgeschichte nicht vergessen. Das war der ‚Wertewesten‘, der nun von der Welt (vergeblich) verlangt, Russland zu isolieren.

    Ein Vertreter der Grünen beklagte die ‚einseitige‘ Anklage. Die Ukraine möchte Europa in den Konflikt hineinziehen, um Russland zu besiegen. Aber wie soll das enden mit einem konventionell hoch gerüsteten und nuklear bewaffeten Russland, das seine eigene Existenz bedroht sieht? Mit einem Amerika, dessen Munitionsvorräte (wie in Grossbritannien) dahin schmelzen und dass sich auf einen Konflikt mit China vorbereitet?

    Wir müssen das diskutieren, und Hitler-Putin-Vergleiche (oder Holodomor-Holocaust-Analogien) sind da alles andere als nützlich.

    Und die Ukraine muss sich klar werden, ob sie weiter „bis zum letzten Ukrainer“ kämpfen will, oder – mit europäischer Unterstützung! – den Frieden verhandeln und ihre Zukunft gewinnen will. Amerikaner (und Engländer) werden – ausser Waffen – nichts liefern, vermute ich mal.

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