Der „Braunschweiger Weg“ in die Sackgasse?

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Stühle hoch. Oder können sie nach dem "Braunschweiger Weg" wieder bald wieder unter den Tisch? Wohl eher nicht so schnell und vor allem nicht jetzt! Foto: NGG

Ab dem kommenden Mittwoch soll in Braunschweig für drei Wochen ein Corona – „Modellprojekt“ durchgeführt werden. Einen wachsenden Teil der Braunschweiger Bevölkerung beschleicht allerdings das ungute Gefühl, dass dieser Schritt nicht in die gegenwärtige Lage der „dritten Welle“ passt. Selbst in Tübingen, das mit seinen Öffnungsschritten von vielen Befürwortern als Vorbild dargestellt wird, hat sich die 7-Tage-Inzidenz innerhalb weniger Wochen verdoppelt; am Montag, dem 29. März, ist die Hundert überschritten worden, bis Donnerstag, 1. April, ist die Zahl schon auf 131,6 gestiegen. Dass das kein Aprilscherz war, kann man daran erkennen, dass auch in Tübingen seit Dienstag (6.4.) die „Notbremse“ gezogen wird: im Einzelhandel ist das Einkaufen mit Terminvergabe nicht mehr erlaubt, Sportanlagen, Zoo und anderes mehr müssen wieder schließen.

Und nun dasselbe in Braunschweig?

Der Tübinger Bürgermeister verweist auf den Zustrom von Touristen, die außerhalb des Landkreises wohnen und die besseren Bedingungen in Tübingen für sich nutzen wollten. Das ist inzwischen abgestellt worden. Umso unverständlicher ist es, dass die Stadt Braunschweig ohne Not in ihrem Modellprojekt den Zustrom von Mitbürgern aus den umliegenden Kommunen zulassen will, zum Beispiel aus Salzgitter mit einer Inzidenz von über 200 oder aus Wolfsburg mit 188 (Angaben aus dem Lagebericht des Landes vom 9.4.). Beide Städte nehmen in der landesweiten 7-Tage-Inzidenz übrigens die Plätze 1 und 2 ein. Braunschweig ist überhaupt zur Zeit von Städten und Landkreisen umgeben, die – mit Ausnahme Goslars – alle höhere Werte als unsere Stadt aufweisen. Wie klug ist es da, sie dessen ungeachtet indirekt am Braunschweiger Modell teilnehmen zu lassen?

Stadt beruhigt mit „wissenschaftlicher Begleitung“ – was sagt die Wissenschaft?

Die Stadt versucht nun die Bürger mit dem Hinweis zu beruhigen, dass das Ganze ja wissenschaftlich begleitet werde. Es wird in Aussicht gestellt, dass das Projekt wissenschaftliche Erkenntnisse hervorbringen wird, von denen alle auf Dauer profitieren könnten. Seltsam nur, dass das Konzeptpapier der Stadt keinerlei Angaben dazu enthält, wer die wissenschaftliche Begleitung ausführt; auch weitere Angaben dazu fehlen völlig. Stattdessen wird mitgeteilt, dass man mit Professor Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung ein Gespräch geführt habe und dass man dessen Vorschlag unterstütze, „eine solche Evaluierung möglichst einheitlich und niedersachsenweit“ durchzuführen. Vorschlag? Ist also noch nichts geregelt und festgelegt? Wenige Tage vor Projektbeginn?

Weiter ist die Rede von einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie DGEpi), an der Professor Krause mitgewirkt habe. Die werde sich mit der Evaluierung beschäftigen und in Kürze herauskommen. Inzwischen liegt diese Stellungnahme tatsächlich vor („Rahmenbedingungen für Modellprojekte zur Öffnung …“). Schauen wir sie uns kurz an:

„Riskante Lockerung“

Einleitend stellen die Wissenschaftler fest, dass eine Lockerung der Infektionsschutzmaß-nahmen „angesichts einer aktuell stattfindenden aktuellen dritten Infektionswelle riskant ist, selbst wenn sie im Rahmen wissenschaftlich begleiteter Modellprojekte unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen .. stattfindet“ (S.1). Schon diese Formulierung sollte jeden Verantwortlichen wenigstens ein bisschen aufschrecken! Im Folgenden werden zahlreiche Voraussetzungen und Bedingungen genannt, ohne deren Einhaltung die Risiken steigen würden.

Projekte „nur bei regionalen 7-Tage-Inzidenzen von unter 50 / 100.000“

Diese Forderung findet sich an oberster Stelle (Punkt a) 1., Seite 1). Der Wert der Stadt Braunschweig erfüllt diese Forderung nicht, wie alle wissen.

Dann wird unter Punkt a) 2. gefordert:

„Vor dem Beginn von Modellprojekten muss gewährleistet sein, dass Schulen und Kindertagesstätten prioritär unter Sicherheitsmaßnahmen stabil geöffnet sind.“

Solange dies in Braunschweig nicht gegeben ist, sollte also das Projekt gar nicht angegangen werden!

Weiter: „Modellprojekte sollten jeweils klar definierte zusammenhängende Lebensbereiche betreffen. Idealerweise erfolgt die Öffnung von zusätzlichen Bereichen nach Analyse der aktuellen Infektionsdynamik schrittweise“ (S.1). Das Braunschweiger Modell dagegen soll gleichzeitig die verschiedensten Bereiche öffnen, neben Handelsbetrieben auch Theater, Kinos, Fitnessstudios, Gaststätten und anderes mehr. Wie sollen da differenzierte Erkenntnisse gewonnen werden?

Ohne Einbeziehen einer Vergleichsstadt kein wissenschaftlicher Mehrwert

In jedem Modellprojekt, so fahren die Wissenschaftler fort, sollten auch Daten von vergleichbaren Regionen erhoben werden, die keine entsprechenden Öffnungsschritte machen“ (S.2). Braunschweig bräuchte also eine Vergleichsstadt, so dass man genau untersuchen kann, was sich wie ausgewirkt hat. Mit dieser Vergleichsstadt müsste vor Projektbeginn genau abgesprochen werden, welche Punkte im Einzelnen untersucht werden sollen. Ist das geschehen? Mit welcher Stadt? Bisher war dazu jedenfalls nichts zu erfahren.

Schließlich weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass die Datenauswertung wie die Evaluation seitens der beteiligten Kommunen mit Daten, Personal oder finanziellen Mitteln unterstützt werden müssten. Auch in dieser Frage kann sich selbst der wohlwollende Beobachter nicht der Zweifel erwehren. Wenn er zum Beispiel in der Braunschweiger Zeitung liest, wie lange das Gesundheitsamt gebraucht hat, um angemessen auf die Coronalage in der Kita Frankfurter Straße zu reagieren. Stadtsprecher Keunecke erklärt das damit, dass die „Arbeitsbelastung des Gesundheitsamtes in dem konkreten Zeitraum sehr hoch war“. Das ist sicher richtig. Aber: Die Stadt selber deutet aber an, dass die Anforderungen an das Gesundheitsamt durch das Modellprojekt noch einmal erheblich gesteigert würden! (Konzept, Seite 5)

„Braunschweiger Weg“? Nicht so und vor allem nicht jetzt!

Die Stadt Braunschweig präsentiert sich gern als „Stadt der Wissenschaft“. Dann muss sie nun auch auf die Stimme der Wissenschaft hören und das Modellprojekt in dieser angespannten Lage stoppen. Sie sollte alle Anstrengungen darauf konzentrieren, Schulen und Kindergärten „stabil offen zu halten“ und das Gesundheitsamt zu ertüchtigen, möglichst alle Kontakte zurück zu verfolgen, um die Infektionszahlen herunter zu schrauben. Wenn das erreicht ist, können Modellprojekte sinnvoll sein – vorher nicht! Andernfalls setzen sich die Verantwortlichen der Stadt dem Verdacht aus, den Hinweis auf wissenschaftliche Begleitung nur als schmückendes Beiwerk zu verwenden.

2 Kommentare

  1. Es hat den Anschein, dass die Stadt Braunschweig mit dem Modell „Braunschweiger Weg“ eher im Sinn hatte das innerstädtische Leben zu befördern als sich einem belastbaren wissenschaftlichen Experiment hinzugeben. Also Stadtmarketing statt Sicherheit in der Pandemie im Mantel der Wissenschaft?

  2. ich habe in den letzten Tagen verschiedene Meldungen und Kommentare gelesen, dass diese Luca-App wohl dilletantisch zusammengeschustert wurde, nicht funktioniert und man sich ohne physische Nähe an andere Orte einbuchen kann.
    https://www.heise.de/tp/features/Die-Luca-App-Dilettantisch-und-sinnlos-6007111.html

    https://taz.de/Versagen-der-gehypten-Corona-App/!5759224/

    https://de.wikipedia.org/wiki/Luca_%28App%29#Kritik

    https://www.stern.de/kultur/tv/jan-boehmermann-macht-sich-ueber-die-luca-app-lustig–nachts-im-zoo-30466126.html

    https://www.welt.de/wirtschaft/plus229919373/Luca-App-So-leicht-laesst-sich-die-Corona-Kontaktverfolgung-austricksen.html

    Aber die Stadt BS macht trotz derartiger Pressemeldungen einfach weiter damit und die BZ lobt diese App auch noch hoch, statt zu recherchieren.
    Hier müssen echte Programmierer prüfen, ob die App funktioniert und sicher ist. Das man sich sowas ungeprüft als Stadtverwaltung bzw. Gesundheitsbehörde überhaupt als Lösung aufschwatzen lässt, zeigt nur wie dekadent, unfähig, überfordert und verantwortungslos mittlerweile unser Verwaltungswesen aber auch die Politker geworden sind.

    Die Luca-App dient wohl eher dem Geldscheffeln von einigen wenigen. Smudo ist Musiker und kein Programmierer, das Zusammenfriemeln der App hat Er ja Anderen überlassen. Aber als Musiker hat Er Interesse daran, dss er wieder auftreten kann und Veranstaltungen stattfinden.
    Es ist einfach unglaublich, wie sich Institutionen, Verwaltungen, Politiker, Minister sich so eine App von Dritten fürs Smartphone als Allheilmittel gegen die Corona-Infektionen aufschwatzen lasssen und alles durchwinken.
    Das beste Mittel gegen eine Corona-Infektion ist immer noch die Gehirn-App in dem eigenen Schädel, und da wo das nicht funktioniert wegen der degenererten Digitalgesellschaft, welche nur noch mit dem Schmarrnfon und Hilfe von Apps denken kann, müssen eben die Ordnungsämter und Polizei die Partys auflösen und weitere Beschränkungen angeordnet werden.

    Da in der leeren Innenstadt Maskenpflicht herrscht, aber sich bei gutem Wetter tausende Mitmenschen ohne Maske in den Parks und Naherholungsgebiet kuscheln, zweifele ich auch an den aktuellen Corona-Regeln und amtlichen Anordnungen. Ist wohl noch keinem aufgefallen, dass da draußen mittlerweile mehr Personen auf einem Haufen stehen, als in der Innenstadt flanieren.
    Beim ersten Lockdown im vergangenen Jahr war die Polizei ständig daei die Parks und Naherholungsgebiete zu überprüfen , jetzt alles Fehlanzeige! Wo soll das noch enden?

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