Braunschweig-Spiegel im Interview mit Sevim Dağdelen
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Sevim Dağdelen war am Antikriegstag eine der mitreißenden Rednerinnen auf der Friedenskundgebung in Braunschweig. Im Anschluss an die Veranstaltung hat sie dem Braunschweig-Spiegel die Möglichkeit geben, Sie im Rahmen eines Interviews ausführlich zum Thema „Frieden in Zeiten geopolitischer Umbrüche und Kriege“ zu befragen. Vielen Dank dafür.
Braunschweig-Spiegel:
Noch in der letzten Legislaturperiode der deutschen Regierung war es der Green Deal, der die Wirtschaft transformieren und Deutschland in der Welt wieder konkurrenzfähig, ja führend machen sollte. Zudem war das Ziel, unsere Umwelt und das Klima enkelfreundlich zu gestalten. Heute spielt das Klima nur noch eine untergeordnete Rolle – stattdessen hat die Aufrüstung oberste Priorität. Anstelle der Bedrohung der Menschheit durch die Klimaerwärmung dominieren heute die medial vermittelten Bedrohungsszenarien durch Russland.
Welche Bedeutung messen Sie unter den heutigen Bedingungen der Politik des Green Deals bei?
Sevim Dağdelen:
Angesichts der gigantischen Aufrüstungspolitik, die von der EU-Kommission mitgetragen wird, ist es absurd, wenn Brüssel weiterhin vom Green New Deal spricht. Wer – wie die NATO es fordert – künftig 5 Prozent des BIP fürs Militär ausgeben will, hat mit Klimaschutz wirklich nichts mehr am Hut. Klimaschutz und Hochrüstungspolitik schließen sich gegenseitig aus. Auch deshalb brauchen wir einen Neuanfang: für Abrüstung und Diplomatie.
Was ist die Ursache für die exorbitante Aufrüstung Deutschlands bzw. Europas?
Sevim Dağdelen:
Die Vorgaben für die Hochrüstung Europas kommen aus Washington. Die Europäer sind dem 5-Prozent-Ziel von US-Präsident Donald Trump wie Lemminge gefolgt, obwohl klar ist, dass diese Aufrüstungspolitik die europäischen Volkswirtschaften ruinieren wird. Die USA setzen auf die Europäer – insbesondere auf Deutschland – um Russland herauszufordern, während sie selbst ihre Ressourcen gegen den Hauptgegner China einsetzen. Man muss wissen, dass US-Investmentkonzerne wie BlackRock oder Morgan Stanley, die beispielsweise den deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall als die größten Anteilseigner mit kontrollieren, ein Interesse daran haben, dass der Bundeshaushalt künftig nahezu zur Hälfte für Rüstungsausgaben verwendet wird. Staaten werden regelrecht für die Profite der Rüstungskonzerne ausgeweidet. Und damit das reibungslos funktioniert, setzt man politische Figuren wie den ehemaligen SPD-Außenminister Sigmar Gabriel in den Aufsichtsrat. Das täglich durch die Medien verbreitete Szenario, der Russe könnte morgen am Brandenburger Tor stehen, sorgt dafür, dass keine unangenehmen Fragen mehr gestellt werden – zum Beispiel, wem die Umwandlung deutscher Steuergelder in BlackRock-Profite eigentlich nützt.
Was sind die Ursachen für die Russophobie der Deutschen?
Sevim Dağdelen:
Die eigentliche Ursache der Russophobie, wie sie hierzulande tagtäglich von den Mainstreammedien befeuert wird, ist die propagandistische Vorbereitung eines Krieges gegen Russland. Der Gegner muss dämonisiert werden, um die Bevölkerung in Deutschland auf einen Kriegseintritt vorzubereiten. Dabei greift die mediale Vorkriegspropaganda auf historische Vorbilder zurück. Auch der Erste Weltkrieg wurde als Befreiungskrieg gegen das „barbarische russische Zarentum“ gerechtfertigt. Russophobie dient der Konstruktion eines Feindbildes, gegen das ein Kriegseintritt dann als logische Konsequenz erscheint. Wenn ein Außenpolitiker wie Johann Wadephul sagt: „Russland ist immer unser Feind“, dann zeigt das nur, dass er selbst bereits Opfer der eigenen Kriegspropaganda geworden ist.
Braunschweig-Spiegel:
Bundeskanzler Merz ist zu einer eigenständigen Außenpolitik nicht bereit, sondern stellt unser Land vollständig in den Dienst von US-geführten Stellvertreter- und Wirtschaftskriegen. Das hat für uns alle gravierende Konsequenzen. Der Traum von einer europäischen Alternative ist endgültig ausgeträumt. Unsere Wirtschafts- und Sicherheitspolitik gleicht inzwischen einer Abteilung des US-Außenministeriums. Der einstige „große Freund“ hat sich zu einem geopolitischen Gegner entwickelt.
Wie sollten wir uns verhalten, wenn man in Brüssel – den USA folgend – nun auch noch einen Wirtschaftskrieg gegen China vom Zaun brechen will? Sollte sich Deutschland bzw. die EU souveräner gegenüber den USA verhalten und die Nähe zu den BRICS-Staaten suchen?
Sevim Dağdelen:
Wenn die deutsche Bundesregierung nicht begreift, dass ein Wirtschaftskrieg gegen China das Ende der deutschen Industrie bedeuten würde, dann ist ihr nicht mehr zu helfen. Ein souveränes Deutschland, das sowohl zu den USA als auch zu den BRICS-Staaten gute Beziehungen pflegt, ist zwingend notwendig – sonst wird sich die Wirtschaftskrise bei uns weiter verschärfen. Sich den US-Vorgaben willenlos unterzuordnen, ist der sichere Weg in die Katastrophe. Die USA haben Interessen – keine Verbündeten. Wer das nicht erkennt, dem ist nicht zu helfen.
Braunschweig-Spiegel:
In der deutschen Parteienlandschaft gibt es nur eine Partei, die sich klar gegen die Verlängerung des Ukraine-Russland-Krieges durch Waffenlieferungen und für eine europäische Friedensarchitektur gemeinsam mit Russland ausspricht: Ihre Partei. Aber auch Die Linke äußert sich gegen eine weitere Aufrüstung der Ukraine. Und auch die AfD tritt dafür ein, dass keine deutschen Waffen mehr an die Ukraine geliefert werden.
Ist es denkbar, dass diese drei Parteien beim Thema Frieden zusammenarbeiten? Oder ist aufgrund der Brandmauer-Politik – ich erinnere hier an das Zustrombegrenzungsgesetz – eine Zusammenarbeit mit der AfD völlig ausgeschlossen?
Sevim Dağdelen:
Ich glaube, dass die Brandmauer-Politik die AfD bislang nicht geschwächt, sondern gestärkt hat. Deshalb halte ich diese Strategie für weder klug noch erfolgversprechend. Wenn es das Ziel der anderen Parteien war – und das war es –, die AfD durch Ausgrenzung, Abschottung und Blockade zu schwächen, dann muss man feststellen: Diese Politik hat das Gegenteil bewirkt. Ich wünsche mir, dass diejenigen, die diese Strategie zu verantworten haben, kritisch reflektieren, dass sie gescheitert ist.
Mir persönlich geht es nicht in erster Linie darum, Partei X oder Y zu bekämpfen – ich stehe für Inhalte. Und ich muss sagen: Die AfD präsentiert sich zwar als Friedenspartei – ist es aber keineswegs. Eine Partei, die 5 % des BIP, also rund 225 Milliarden Euro, für Aufrüstung ausgeben will, die bedingungslos die NATO unter US-Führung unterstützt, die einen Völkermord im Gazastreifen durch Israel gutheißt – das ist keine Friedenspartei. Ich sehe daher keine große Übereinstimmung zwischen BSW und AfD in der Außenpolitik – mit Ausnahme der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland.
Aber: Wer ernsthaft für Frieden eintritt – gegen das NATO-Aufrüstungsziel, gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland und gegen einen Kriegseintritt gegen Russland, was eine enorme Gefahr für uns alle darstellt –, mit dem bin ich bereit zusammenzuarbeiten. Wir brauchen eine gesellschaftliche Friedensbewegung, die sich nicht durch Brandmauer-Politik selbst ihrer Wirksamkeit beraubt.
Braunschweig-Spiegel:
Wie steht das BSW zur Religion? Gibt es Christen im BSW? Könnte man sich beispielsweise deutschlandweit vernetzten Arbeitsgruppen anschließen?
Sevim Dağdelen:
Zunächst einmal freut es mich sehr, dass es – abseits der Führungen der beiden großen Kirchen in Deutschland – nach wie vor viele engagierte Menschen in den Kirchen gibt, die sich für Frieden und für Diplomatie als Mittel der Konfliktlösung statt für Waffenlieferungen einsetzen.
Es hat mich in den letzten Jahren erschüttert, dass führende Persönlichkeiten in den Kirchen – gerade im Protestantismus – die Worte Jesu geradezu pervertieren, wenn sie etwa zu Weihnachten sagen, Nächstenliebe bedeute heute, Waffen in die Ukraine zu liefern.
Ich selbst bin nicht religiös. Aber ich verstehe und achte Menschen, die aus ihrem Glauben heraus für Frieden und Gerechtigkeit eintreten. Ich sehe zum Beispiel meine Schwiegereltern, die sehr religiös sind und sich aus ihrem Glauben heraus für eine gerechte und friedliche Welt engagieren. Sie sind entsetzt darüber, wie hierzulande wieder Waffen gesegnet werden, und halten den Kriegskurs der Kirchenführungen in Deutschland für einen fatalen Irrweg. Das sind – und sollten – unsere Verbündeten sein.
Ich kann mir deshalb gut vorstellen, dass wir als BSW stärker versuchen sollten, gerade diese Menschen mit offenen Armen willkommen zu heißen und zu unterstützen – Menschen, die sich aus ihrem Glauben heraus für Frieden und Gerechtigkeit engagieren.
Wir sind eine junge Partei und stehen am Anfang unserer Strukturbildung. Deshalb gibt es bislang keine Arbeitsgemeinschaft „Christen im BSW“ oder Ähnliches. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es sinnvoll ist, etwa „Muslime im BSW“, „Buddhisten im BSW“ oder „Christen im BSW“ zu gründen. Ich denke, es wäre besser, konfessionsübergreifend zu bestimmten Themen – wie zum Beispiel dem Thema Frieden – zusammenzuarbeiten. Das würde es ermöglichen, Menschen mit ganz unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Hintergründen zusammenzubringen. Eine solche themenbezogene, überkonfessionelle Zusammenarbeit kann ich mir sehr gut vorstellen.
Ich würde es außerdem sehr begrüßen, wenn sich Christinnen und Christen in ihren Kirchen aktiv gegen die Ausgrenzung des BSW einsetzen – also gegen die Politik der kirchlichen Verbände, die eine Partei diffamieren, nur weil sie sich klar gegen Waffenlieferungen, gegen Völkermord und für Diplomatie und Frieden einsetzt. Es ist ein bedenkliches Zeichen unserer Zeit, dass ausgerechnet diejenigen, die den Völkermord in Gaza offen benennen, von den Kirchenführungen ausgegrenzt werden.
Ich hoffe hier auf eine Bewegung von unten. Dem Versuch, Krieg und Lüge zu „heiligen“, sollte man niemals tatenlos zusehen.




















