Ein Hannoveraner, wohnhaft in Österreich, heiratet eine Berlinerin. Die Hochzeit findet in Berlin statt. Nicht in Braunschweig. Braunschweig und die Braunschweiger haben auf den Vorgang keinen Einfluss. Ein halbes Jahr später zieht das Paar nach Braunschweig, die beiden sind nun Herzog und Herzogin von Braunschweig. Von Kaisers Gnaden. Die Berlinerin ist seine Tochter, der Hannoveraner ist ein Welfe. Vor der Heirat muss er in die preußische Armee eintreten und dem Kaiser Wohlverhalten versprechen. – Genau fünf Jahre und 5 Tage nach dem Einzug werden die beiden – Ernst August und Viktoria Luise – von vielen Braunschweigern zur Abdankung gezwungen und müssen wieder gehen.
Christoph Stölzl, von der Stadt beauftragt, sieht in der Hochzeit etwas Bedeutendes, ein Ereignis, aus dem Braunschweig eine „große Erzählung ziehen“ könne. Er stellt uns sogar ein Kulturprojekt in Aussicht, das „wirklich eine Sensation werden“ könne (erster Konzeptentwurf). BZ – Redakteur Martin Jasper dagegen charakterisiert die Hochzeit als „Tanz am Abgrund“ (BZ, 11.12.2009).
Jedenfalls wird sich die Stadt im nächsten Jahr, 2013, intensiv mit dem Jahr 1913 befassen. Nun ist die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte immer ein Gewinn – wenn sie unvoreingenommen geschieht. Andernfalls besteht die Gefahr, dass man sich dem Vorwurf der provinziellen Beschränkt-heit oder des hohlen Lokalpatriotismus aussetzt – oder sich sogar bundesweit lächerlich macht.
„Tanz am Abgrund“ oder „Fürstenereignis von großer europäischer Dimension“?
Die Einschätzung der Hochzeit als „Tanz am Abgrund“ geht davon aus, dass die Weichen längst auf Krieg gestellt waren, der ja bekanntlich im Folgejahr begonnen wurde, und zwar unter erheblicher Mitwirkung des Brautvaters, Wilhelms II. Vor diesem Hintergrund verliert selbst ein freudiges Ereig-nis wie eine Hochzeit seine Unschuld. Wer da am Abgrund tanzt, ist entweder blind oder ignorant oder will vielleicht sogar andere ablenken oder täuschen.
Christoph Stölzl vertritt eine gegensätzliche Auffassung zur Lage im Jahr 1913. Er schreibt, dass „1913 … die ins Gute, Friedliche weisenden Tendenzen genauso stark – wenn nicht viel stärker! – als die Vorzeichen der Katastrophe“ gewesen seien. Diejenigen „Künstler und Denker“, die schon 1913 vor dem kommenden Unglück warnten, seien „nur ein marginaler Teil des buntfarbigen Kaleidoskops dieses Jahres“ gewesen, die „Zeitgenossen haben es, bis in den Juli 1914 hinein, nicht gewusst“ (Zitate aus „1913: Jahr der Brüche“, erster Konzeptentwurf).
Wer hat nun Recht?
Die Ergebnisse der Historiker, die sich intensiv mit der Geschichte und Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges befasst haben, sprechen eine klare Sprache. Als Zeugen zitieren wir Michael Stürmer, einen wirklich renommierten Historiker (politisch eher konservativ eingestellt, nicht anders als Stölzl), der den geschichtlichen Vorgängen in dem Band „Das ruhelose Reich“ (Berlin 1994) auf den Grund gegangen ist. Er schreibt: „Seit der Marokkokrise war der Ausbruch des Großen Krieges, ohne Illusion gesehen, nur noch eine Frage des Datums. In der Publizistik der europäischen Machtstaaten gab es kein Thema von gleicher Faszination wie der künftige Krieg.“ (S.352) Das war bereits im Jahre 1911! Im folgenden Jahr 1912 sei – nicht zuletzt auf Betreiben des Kaisers – in Verhandlungen mit Lord Haldane leichtfertig die Chance europäischer Friedenssicherung verspielt worden (S.355 f). In der Balkankrise 1912/13 habe Europa ein weiteres Mal „am Rande des Weltkrieges“ gestanden und „die Deutschen hielten den Schlüssel in der Hand, der ihn auslösen würde.“ (S.360)
Krieg? „Je eher, desto besser“
In einer Zusammenkunft mit den höchsten deutschen Militärs am 8. Dezember 1912 habe der Kaiser den Krieg als „auch für uns unvermeidlich“ bezeichnet; Moltke, der Chef des Generalstabs, habe dem nicht nur zugestimmt, sondern sogar die Formal „Je eher, desto besser“ geprägt (S.360). Stürmer weist besonders darauf hin, dass August Bebel, der große Führer der deutschen Sozialdemokratie, schon 1911 im Reichstag vor dem bevorstehenden „großen Generalmarsch“ gewarnt habe, in dem „16 bis 18 Millionen Männer, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken“ – er sei von den konservativen Kräften ausgelacht worden (S. 352). Im Jahre 1913, „am Vorabend des Weltkriegs“, sei „die Atmosphäre in Deutschland gewitterschwül“ und die außenpolitische Lage „unheilschwanger“ gewesen. Und: „Aber die deutsche Führung war viel zu sehr ein Teil der Drohung“ (S.362).-
Im Übrigen sind sich die deutschen Historiker längst einig, dass die deutsche Führung einen „erheblichen Anteil am Kriegsausbruch“ gehabt hat (Nipperdey), diskutiert wird unter ihnen lediglich über die genaue Höhe dieses Anteils.
Hochzeit in „gewitterschwüler Atmosphäre“
Wenige Monate vor der Hochzeit fordert Wilhelm II. von seinem Staatsekretär, an der „Volkstümlichkeit eines Krieges gegen Rußland“ auch „mit seinen Pressemitteln“ zu arbeiten, also verstärkt Kriegspropaganda zu betreiben. Nach all dem dürfte klar sein: der Brautvater war drauf und dran, das deutsche Volk ins schwerste Unglück zu treiben, auch wenn die Braut das bis an ihr Lebensende nicht wahrhaben wollte. Wer beim Kulturprojekt „Braunschweig 1913“ diesen Zusammenhang ausblenden möchte, läuft Gefahr, sich – und, was viel schlimmer wäre: unsere Stadt – lächerlich zu machen. Forderungen wie „der erste Weltkrieg ab 1914 sollte thematisch unbedingt ausgeklammert werden“ und „ab 1914 Zeitenwende, das ist ein anderes komplexes Thema“ (Christoph Stölzl laut Protokoll der Gesprächsrunde vom 14. Juni 2012) haben das Potential dazu. Oder sollte es sich nur um ein Missverständnis handeln?
0 #1 Lilo 2012-08-23 12:45
Alles richtig geschlussfolger t. Es wird nicht nur ein fragwürdiges, sondern am Ende wieder ein lächerliches Spektakel, ähnlich wie das „Otto“-Jahr (Otto, wer?)…
Allerdings haben Kritiker ein großes Problem: Mangel an echtem Selbstbewusstse in und Irritation, WER sind wir denn eigentlich wirklich? Dazu kommt die künstlich als Provinz gehaltene Stadt Braunschweig. Da ist es schon fast egal, was stattfindet. Hauptsache, es findet nur irgendwas zur Bespaßung statt. Und da wird Lächerlichkeit oder Tiefgang Nebensache! Und schon kann der nächste Dämpfer, den uns die Fachwelt und Lachwelt erteilt, kommen. Hauptsache, es war wieder was los in Braunschweig. Mit Trockenhistorie kommt man womöglich nicht weiter. Wo bleiben die Satiriker, die Schelme dieser Stadt, die uns erkennen lassen, wohin solche Possen führen?




















