Vorbemerkung
Inzwischen erreichte uns ein weiterer Beitrag von Michael von der Schulenburg. Auch er beleuchtet die Frage nach einem möglichen Kriegsende durch Anstrengungen auf der diplomatischen Ebene, hält ein Ergebnis sogar in relativ kurzer Zeit für möglich; auch diese Einschätzung dürfte für Diskussionen sorgen – gern auch in unserer Kommentarspalte. Anders als der Autor des gestern veröffentlichten Beitrags, Jochen Luhmann, schätzt Schulenburg die bisherige Rolle der EU recht negativ ein. Wie Luhmann geht er aber davon aus, dass die EU auf diplomatischer Ebene aktiv werden muss – im eigenen Interesse. (a.m.)
Von Michael von der Schulenburg
Auch wenn an der Front noch geschossen wird, könnte mit den jetzt eingesetzten Entwicklungen der Krieg in der Ukraine auf eine im Westen völlig unerwartete Weise enden – und zwar mit einem ukrainisch-russischem Einverständnis ohne westliche Beteiligung. Wie es scheint, wird der Ukrainekrieg nun in Kiew und nicht mehr an der Front entschieden. Dabei wird sich viel um die Person Selenskyj drehen, einst ein Held und heute eher eine tragische Figur, die riskiert, die nächsten Monate als Präsident nicht zu überleben.
Der Grund dafür ist, dass Selenskyj das wahnsinnig anmutende Ziel verfolgt, mit einer erneuten Großoffensive Russland in diesem Jahr doch noch besiegen zu wollen. Dazu will er 500.000 Ukrainer zwangsrekrutieren. Aber eine solche Großoffensive müsste in drei bis vier Monaten beginnen. Er würde also dazu weder die Waffen noch die Soldaten noch die Zeit dazu haben, diese Offensive auch nur annähernd erfolgversprechend vorzubereiten. Eine solche Offensive wäre ein kollektiver Selbstmord. Dagegen wird sich massiver Widerstand formieren. Nach Hunderttausenden an gefallenen, verstümmelten und seelisch tief verletzten Menschen können wir davon ausgehen, dass heute in der Ukraine kaum noch jemand in diesem sinnlosen Krieg sterben will.
Nun hat Selenskyj auch noch seinen Oberkommandierenden der Armee, Saluschnyj, entlassen und damit eine Vertrauenskrise in der Armee ausgelöst – einer Armee, die bereits einen enormen Blutzoll in der letzten fehlgeschlagenen Großoffensive gezahlt hat und die immer weniger Soldaten und Munition hat, um sich überhaupt zu verteidigen. Es ist daher auch nicht mehr undenkbar, dass es innerhalb der ukrainischen Armee zum Widerstand kommt und sich erste Zerfallserscheinungen zeigen würden – wenn sie nicht schon längst begonnen haben. Das würde Selenskyjs politische Autorität weiter untergraben.
Und nicht nur das. Selenskyj kann auch nicht mehr damit punkten, im Westen als Held empfangen zu werden und damit enorme finanzielle und militärische Unterstützung ins Land zu bringen. Von zwei Reisen nach Washington ist er mit leeren Händen zurückgekehrt. Seine Kriegsplänen werden nicht mehr uneingeschränkt von der NATO unterstützt. Es gibt kaum noch die massiven NATO-Waffen- und Munitionslieferungen wie von vor einem Jahr, und die nach langer Zeit freigegebenen EU-Gelder sind zu 2/3 Kredite, die zurückgezahlt werden müssten. Vor allem die USA haben den Kriegsschauplatz Ukraine bereits verlassen, und nach dem Putin-Interview von Tucker Carlson wird der republikanische Widerstand gegen weitere Waffenlieferungen im US-Kongress sich eher noch verstärken.
Den Ukrainern muss inzwischen klar geworden sein, dass ein „wir unterstützen Euch, solange es braucht“ nie ernst gemeint war, dass eine Restukraine nie Mitglied der NATO werden wird und dass von der Leyens Versprechen, die Ukraine im Schnellverfahren in die EU aufzunehmen, nur leere Worthülsen waren. Den Ukrainern muss auch klar sein, dass Präsident Biden angezählt, ja politisch gelähmt ist und dass für die USA heute der Gaza-Krieg und der Konflikt im Nahen Osten wesentlich wichtiger ist als das Schicksal der Ukraine. Auch wissen die Ukrainer, dass mit immer höherer Wahrscheinlichkeit der nächste Präsident der USA Donald Trump heißen könnte und dass dieser, über ihre Köpfe hinweg, mit Russland einen Ausgleich suchen würde. Und von Europas Solidaritätserklärungen kann die Ukraine außer großer Worte nicht viel erwarten.
Die Ukrainer werden sich daher an die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen erinnern, als man sich nur einen Monat nach Beginn der Kriegshandlungen, auf für die Ukraine äußerst günstige Friedensbedingungen geeinigt hatte. Es wäre daher naheliegend, dass eine post- Selenskyj Regierung versuchen könnte, wieder mit Russland zu verhandeln. Wenn das passiert, könnte alles sehr schnell gehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Gespräche bereits im Geheimen gibt. Auch wenn der Westen nicht mit Putin reden will, so gibt es ja regelmäßige Kontakte zwischen den Militärs Russlands und der Ukraine – sonst wären die vielen Gefangenaustausche und die erstaunlich niedrige Zahl der getöteten Zivilisten nicht denkbar.
Es ist zu erwarten, dass Putin auf eine ukrainische Gesprächsbereitschaft großmütig reagieren würde. Er wird die Ukraine nicht erniedrigen wollen und auch nicht verlangen, die Regierung auszutauschen (er hat ja nie eine Exilregierung aufbauen lassen). Er wird auch nicht in Kiew einmarschieren und schon gar nicht versuchen, die ganze Ukraine zu erobern. Seine vorrangigen Ziele werden sein zu verhindern, dass die Ukraine einem westlichen Bündnis wie der NATO beitreten wird, dass Russlands Zugang zum Schwarzen Meer garantiert ist und dass der russische Einfluss in der Ukraine weiterhin stark bleibt. Dazu braucht er die Kooperation großer Teile der ukrainischen Bevölkerung. Das wird nicht mit Gewalt zu erreichen sein. Putin wird deshalb Konzessionen machen müssen. Welche das sind, das wissen wir nicht.
Aber eine Sache ist schon jetzt klar. Was dann auch passiert, der Westen – und auch die USA – würden dabei keine Rolle spielen. Die NATO-Erweiterung nach Osten würde gestoppt werden, und die Ukraine, Georgien und Moldova wie auch das Schwarze Meer würden zurück in die russische Einflusszone fallen. Der Rückzug der USA aus diesen Gebieten, wie auch aus vielen anderen Gebieten der Welt, würde unter Beifall des Globalen Südens beginnen und eine neue Zeit einläuten. Die Zeitenwende, die ein Bundeskanzler einst beschworen hatte, wird dann sehr anders aussehen, als er sich das vorgestellt hat.
All das wird aber keinen Frieden für Europa bringen und der Kampf um eine dauerhafte Friedenslösung wird jetzt erst beginnen müssen. Die EU-Staaten werden diesen Frieden mehr brauchen als Russland. Und doch gibt es bisher nicht den geringsten Ansatz für Überlegungen innerhalb der EU oder unter EU-Mitgliedsstaaten, wie ein gesamteuropäischer Frieden aussehen sollte und wie er erreicht werden könnte. Solche Überlegungen müssen genau jetzt dringend auf den Weg gebracht werden – andernfalls könnte die EU daran zerbrechen.






























Eine verfahrene Situation:
die Restukraine in die EU aufzunehmen wird sehr teuer, den Prognosen nach würden die jetzigen Empfänger von Finanzhilfen zu -zahlern (in Richtung Ukraine) werden. Ob die EU das aushält, wird man sehen.
Etwas ähnliches gilt für die Nato – mit einem Präsidenten Trump? Auch das wird man sehen.
Der Plan, die Nato an die Grenze Russlands zu schieben könnte gescheitert sein. Wie gut unsere von der Propaganda benebelte Bevölkerung und die Politik im Kater nach dem ‚Siegesrausch‘ das ertragen – mal sehen.
Und zur Stimmung in der Ukraine: wird man sich dort erinnern an die „Antiterroroperation“ (so wurde das bezeichnet) der Westukraine gegen den Donbas (mit 14.000 Toten, lt. OSZE)?
Schulenburg hat es angedeutet – es könnte sein, dass Strassen und Plätze wieder Namen wechseln, statt „Bandera-“ nun …?
Auch in Amerika gibt es Kritik an der gesundheitsschädlichen LNG-Förderung ‚zugunsten‘ der Europäer. Auch dort könnte es Meinungs- und Politikwechsel geben.
Ich hoffe nur, dass nicht eine verzweifelte Amtshandlung der ‚Ampel‘ in der Anschaffung von europäischen Atomwaffen besteht – quasi ‚Selbstmord aus Angst vorm Tod‘. Ich glaube, im Radio in ‚Streitkräfte und Strategien‘ wurde sowas angedeutet.
Es bleibt interessant, bewahren wir kaltes Blut.
„Der Plan, die Nato an die Grenze Russlands zu schieben könnte gescheitert sein.“
Finnland, Alaska, Polen usw. sind in der NATO und grenzen an Russland.
Finnland seit neuestem, ja. Norwegen duldet im Frieden keine Nato-Atomwaffen, da gibt es einige spezielle Vereinbarungen – mal sehen, was Finnland aushandelt.
Polen grenzt an Kaliningrad, das ist nur begrenzt von strategischer Bedeutung und sonst nur an Belorus. Ob dort dann Hyperschallraketen stehen werden (sollten die US-Amerikaner das technisch in den Griff kriegen), wird die Zeit zeigen.
Alaska liegt aehnlich, mit dem Meer dazwischen, und bis Moskau ist es sehr weit.
Brzezinskis ‚Schachbrett‘-Plan wirkt einigermassen irre. Vor der Nato-Ausdehnung haben diverse US-Fachleute (Ex-CIA, Ex-Botschafter) u.a. (H.Schmidt, H.Kissinger) gewarnt.
Ueber das Sahnehäubchen auf dem Kuchen bin ich grade eben noch gestolpert:
die ‚Welt‘ vom 18. Feb ’22:
„Vermerk eines deutschen Diplomaten – Archivfund bestätigt Sicht der Russen bei Nato-Osterweiterung“
Die Amerikaner waren in der Kuba-Krise nicht zimperlich. Und dabei hatten sie die Russen vorher noch provoziert – mit Atomraketen in der Tuerkei! Wir haben da ein paar gefaehrliche Partner in der Nato.
Der ehemalige Atomwaffeninspekteur der UNO im Irak, Scott Ritter hatte sich vor kurzem noch amuesiert in einem Interview. Die US-Amerikaner richten sich auf einen Rueckzug aus der Angelegenheit ein (wg Wahlkampf; s. zB Nulands vorzeitiger Ruecktritt – die Kommentatoren „schweigen droehnend“), aber das haben die Europaeer noch nicht wirklich realisiert und diskutieren ‚boots on the ground‘ und Marschflugkoerper.
Ich vermute mal, H. Schmidt hatte seinerzeit in den 80ern die Nachruestung gefordert, weil er schon damals der US-Nukleargarantie nicht wirklich getraut hatte.
Was fuer ein Schlamassel …