Washingtons Wurmfortsatz – eine schonungslose Analyse

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Von Marcus Schneider, Friedrich-Ebert-Stiftung

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Artikel erschien erstmals beim IPG Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung, die uns freundlicherweise die Veröffentlichung gestattet hat. Der Autor analysiert das jüngst veröffentlichte Papier zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA – so schonungslos und konsequent, wie man es aus deutschen Medien kaum mehr gewohnt ist. Er stellt eingangs fest, dass der Westen, wie wir ihn kannten, tot sei und dass die globale Vorherrschaft der USA am Ende sei. Die herrschenden Kräfte in Washington hätten das liberale Europa zum Feind erklärt, nur hätten die europäischen Eliten das noch nicht bemerkt. Deren bisherige Strategie, den Machthaber der USA „durch Demutsgesten milde zu stimmen“, habe eher geschadet als genützt. Nun stehe die Wahl zwischen völliger Unterwerfung unter Washingtons Diktat oder einer Flucht nach vorne, in eine wirkliche Unabhängigkeit. Die folgende Überschrift sollte nicht falsch verstanden werden: es geht dem Autor nicht um mehr Militär, sondern um ein eigenständiges Militär jenseits der NATO, die die Europäer letztlich nur „an die amerikanische Vormacht kettet“. Er setzt die angebliche „russische Gefahr“ selber in Anführungszeichen und weist – zutreffend – darauf hin, dass „Moskau letztlich über beschränkte militärische Fähigkeiten verfügt“. Es sei längst Zeit für eine eigenständige Friedensinitiative Europas. Auch in der Chinapolitik sollte Europa nicht einfach den machtpolitischen Kampf der Amerikaner folgen. Sein Blick in die Zukunft fällt ziemlich skeptisch aus: Die europäischen Eliten seien ideologisch „denkbar schlecht vorbereitet“, der Weg in die völlige Unterwerfung sei allerdings die deutlich schlechtere Option. a.m.

Um den geopolitischen Abstieg zu verhindern, brauchen Europas Nationalstaaten militärische Stärke jenseits der NATO – und den Ausgleich mit Russland.

Die Ende letzter Woche veröffentlichte Nationale Sicherheitsstrategie der USA ist das Dokument, das in der bislang kondensiertesten Form die geopolitische Weltanschauung der Trump-Bewegung zum Ausdruck bringt. Für Europa sollte daraus ein Moment der Ehrlichkeit erwachsen. Einer zweiten, aber viel weitreichenderen Zeitenwende gleich werden nun alle Grundannahmen infrage gestellt, die für den Kontinent in der Nachkriegszeit maßgeblich waren. Die Pax Americana und mit ihr der Westen, wie wir ihn kannten, sind tot. Amerika zieht sich aus der selbst proklamierten „regelbasierten“ Weltordnung zurück. Es gibt eine machtpolitische Konfrontation mit anderen Weltmächten, jedoch keine ideologische mehr. Statt Partner, wie untergeordnet auch immer, wird Europa zum Vasallen, der dem Hegemon in Washington im besten Falle seine Gunst erweisendarf. Im schlechtesten Falle ist Europa der zivilisatorische Feind, den das Empire auf Linie bringt.

Es ist das Ende der absoluten globalen Vorherrschaft der USA. Dieses Projekt erklären die Autoren der Strategie unzweideutig für gescheitert. Der sogenannte Globalismus habe die Ressourcen Amerikas überdehnt, das Land im Inneren geschwächt. Die Konsequenz daraus ist ein Rückzug von der Rolle als globaler Polizist und Ordnungsmacht. Die Beziehungen zu China und zu Russland sollen entideologisiert werden, man bemüht sich um Ausgleich, will in einer neuen multipolaren Ordnung zwar Primus inter Pares bleiben, nicht jedoch überall gleichzeitig eingreifen. Weder die Ukraine noch Taiwan werden als essenzielle Konflikte betrachtet. Die Anne-Applebaum-Welt einer globalen Konfrontation zwischen Demokratien und Autokratien wird mit Fanfaren beerdigt.

Der Drang nach Entideologisierung und Ausgleich nach außen geht nach innen jedoch einher mit einer totalen kulturkämpferischen Re-Ideologisierung und mit dem deklarierten Willen, keinen Widerspruch zu dulden. Es ist quasi eine Zwei-Welten-Lehre, die sich hier etabliert. Russland, Asien, Afrika, der größere Teil des Nahen Ostens konstituieren die äußere Welt. Die innere Welt dagegen beschränkt sich nicht auf das souveräne Territorium der USA, sondern umfasst die gesamte westliche Hemisphäre, in der Amerika absolute Herrschaft anstrebt. Zu diesem Reich der amerikanischen Zivilisation gehört auch Europa und die Anglosphäre als Gesamtheit der ehemaligen britischen Siedlungskolonien. Der alte Kontinent wird als eine Art zivilisatorischer Hinterhof definiert, dem bei Beibehaltung der derzeitigen Richtung jedoch nichts weniger als „zivilisatorische Auslöschung“ drohe. Die Aktivitäten der Europäischen Union selbst werden als Ursache für diese vermeintliche Notlage genannt.

Konsequent zu Ende gedacht propagieren die Amerikaner hier massiven Interventionismus in die inneren politischen Angelegenheiten souveräner Staaten, auf dem Papier handelt es sich mithin noch um Verbündete. Während dem Regime Change-Wahn im Nahen Osten abgeschworen wird, gilt innerhalb der eigenen Reichsgrenzen de facto keine staatliche Souveränität mehr. Es ist die Rede von den „gesunden Nationen Mittel-, Ost- und Südeuropas“, die gefördert werden sollen. Dem gegenüber müssen wohl die kranken Nationen Westeuropas und die EU stehen, zumal laut Dokument durch Einwanderung „nicht-europäische Mehrheiten“ drohten, die die strategisch-politische Ausrichtung der NATO-Staaten verändern könnten. Wer ein rassistisches Verständnis von Zivilisation hat, für den sind Menschen mit falscher Hautfarbe oder Religion offensichtlich grundsätzlich „nicht-europäisch“ und gefährlich.

Europa steht letztlich vor der Wahl einer völligen Unterwerfung unter Washingtons Diktat oder einer Flucht nach vorn in eine tatsächliche geopolitische Unabhängigkeit.

Das liberale Europa – das entgegen den Annahmen der Strategie weiterhin über die übergroßen parlamentarischen und wohl auch gesellschaftlichen Mehrheiten in fast allen EU-Staaten verfügt – sollte sich hier keinen Illusionen hingeben. Die herrschenden Kräfte in Washington haben es zum Feind erklärt. Nicht lediglich zu einem politischen Gegner. Derjenige, dem man die „Auslöschung“ der eigenen Zivilisation zum Vorwurf macht, ist kein politischer Gegner, mit dem man einen Kompromiss erzielen könnte, sondern ein Feind, der im besten Falle eingedämmt, im schlechtesten vernichtet gehört. Während die europäischen Eliten diese Tatsache noch nicht verstanden haben, ist die Bevölkerung in ihrer Erkenntnis bereits wesentlich weiter.

Europa steht letztlich vor der Wahl einer völligen Unterwerfung unter Washingtons Diktat oder einer Flucht nach vorn in eine tatsächliche geopolitische Unabhängigkeit. Für Letztere sind die europäischen Eliten ideologisch denkbar schlecht vorbereitet. Bisher lautete die Strategie, den Machthaber in Washington durch Demutsgesten milde zu stimmen. Mehr als Verachtung und Marginalisierung sind dabei nicht herausgekommen. Statt an tatsächlicher strategischer Autonomie zu arbeiten, mästete man die Auftragsbücher der US-Rüstungsindustrie. Die sicherheitspolitische Abhängigkeit – und damit die Erpressbarkeit – wurde damit größer, nicht kleiner. Die massive Aufrüstung wird mit der „russischen Gefahr“ begründet, obgleich klar ist, dass Moskau letztlich über beschränkte militärische Möglichkeiten verfügt und Putins weitreichendste Ambitionen verblassen gegenüber dem, was die herrschende Kaste in Washington formuliert.

Allein aufgrund seiner gigantischen Kapazitäten und Fähigkeiten ist ein feindlich gesonnenes Amerika, das die EU rückabwickeln möchte, für Europa viel gefährlicher als es Russland je sein konnte. Diese Erkenntnis fällt den europäischen Eliten jedoch schwer. Sie haben den Transatlantismus derart verinnerlicht, dass sie eine europäische Unabhängigkeit jenseits von US-Primat und NATO, geschweige denn von und gegen Amerika schlicht nicht denken können.

Dies gilt im besonderen Maße für Deutschland, das wie kein anderes Land im ideologischen Projekt des Westens aufging, quasi bis zur nationalen Selbstaufgabe. Seit dem „langen Weg nach Westen“ besteht hierzulande nachgerade ein Misstrauen vor Eigenständigkeit. Das böse Wort vom „Sonderweg“ kursiert. Neben der absoluten Anerkennung der US-Vorherrschaft nach zwei verlorenen Weltkriegen gilt nationale Selbstbeschränkung als Ziel. Allenfalls eine „dienende Rolle“ sei denkbar. Nun kommt dem Diener jedoch der Herr abhanden. Weder das irrlichternd-feindselige Washington noch das gelähmte Brüssel können aushelfen. Entweder wir werden selbst tätig oder wir versinken in Ohnmacht.

Frankreich war das letzte aller europäischen Länder, das sich der transatlantischen Kolonisierung des Geistes widersetzt hat und noch heute über so etwas wie eine eigenständige nationale Strategiekultur verfügt. Leider wurde der Gaullismus nie europäisiert. Paris wahrte eine gesunde Distanz zur NATO, weil dem Elysée klar war, dass in der einstigen Zusammenfassung der strategischen Logik der NATO – „Amerikaner einbinden, Russen fernhalten, Deutsche kleinhalten.“ – der letzte Teil nicht auf Deutschland, sondern auf Europa zielte. Die NATO ist ein Bündnis, das die Streitkräfte der Mitgliedstaaten in einer Art und Weise integriert – oder besser: an die amerikanische Vormacht kettet –, die eine europäische strategische Autonomie unmöglich macht. Will Europa eine geopolitische Unabhängigkeit erreichen, die es im Zweifelsfall auch gegen Washington durchsetzen kann, muss es diese militärisch und sicherheitspolitisch zwingend außerhalb der NATO suchen. Das ist eine einfache Wahrheit, die auszusprechen sich niemand traut.

Der De-facto-Rückzug der Amerikaner aus der NATO dürfte auch in Moskau das Kalkül verändern.

Zum Moment der Ehrlichkeit gehört auch, die Europäische Union nicht mit Erwartungen zu überfrachten. Die EU ist ein Geschöpf der untergehenden regel- und völkerrechtsorientierten Weltordnung. In ihrer Essenz beruht sie auf ökonomischen und regulatorischen Prinzipien. Sie ist kein harter geopolitischer Player und kann dies angesichts ihrer inneren Verfasstheit und der auseinanderstrebenden Interessen ihrer Mitgliedstaaten auch nicht sein. Zu schwerfällig ist sie, zu einfach kann sie blockiert werden, zu wenig sind ihre Funktionäre fähig, politisch zu denken. Sie grundsätzlich zu erhalten, sachte zu reformieren, die Mitgliedstaaten immer wieder zusammenzuführen – das sollte Ziel genug sein. Jegliche Überambition droht sie zu töten – längst erklärtes Ziel einer immer größeren Fraktion in Washington – oder den Kontinent in die endgültige Lähmung zu schicken. Dies anzuerkennen, gebietet der politische Realismus.

Will Europa die eigene Vasallisierung und die längst eingeläutete geopolitische Degradierung noch verhindern, müssen seine Nationalstaaten selbst tätig werden. Am realistischsten in einer Allianz der Willigen, die Deutschland und Frankreich anführen. Dies erfordert eine Kultur der geistig-strategischen Unabhängigkeit, die selbstständig europäische und nationalstaatliche Interessen setzt, anstatt sich lediglich als Wurmfortsatz Washingtons zu definieren. Eine echte sicherheitspolitische Autonomie ist nur mit einem militärischen Standbein außerhalb der NATO, einer eigenständigen Rüstungsindustrie und dem zumindest temporären Spannen des französischen Atomschirms über unabhängig gesinnte Teile des Kontinents zu erreichen.

Um geopolitisch wieder in die Vorhand zu kommen, ist allerdings auch ein mittelfristiger Ausgleich mit Russland unausweichlich. Der Ukrainekrieg wurde in Europa als ein Weltordnungskrieg überfrachtet. Die Ordnung, die es zu verteidigen galt, gibt es nicht mehr. Das kann man bedauern, ist aber eine schlichte Anerkennung der Realität. Der De-facto-Rückzug der Amerikaner aus der NATO dürfte auch in Moskau das Kalkül verändern. Es ist längst Zeit für eine eigenständige europäische Friedensinitiative, die auf einer realistischen Einschätzung eigener Interessen und Kräfte basiert. Dies gilt auch mit Blick auf China. Nichts verpflichtet uns, gegen Peking den rein machtpolitisch fundierten Kampf der Amerikaner zu führen. Vielmehr sollten Europas Regionalmächte lernen, in der aufstrebenden multipolaren Ordnung zwischen den Polen zu balancieren und somit selbst das Beste für den eigenen Kontinent herauszuholen.

All dies erfordert freilich Staatskunst statt der leider üblich gewordenen Twitter-Außenpolitik, die gerne diplomatische Kopfnoten verteilt und sich auch sonst in Schnappatmung und Empörungsgesten erschöpft. Dass der Kampf um die europäische Unabhängigkeit und das Herauslösen aus amerikanischer Übergriffigkeit gelingt, ist alles andere als sicher. Die Ausgangslage ist nicht gut. Die Alternative allerdings besteht in Abhängigkeit und Fremdherrschaft – beides deutlich schlechtere Optionen.

(Marcus Schneider leitet das FES-Regionalprojekt für Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten mit Sitz in Beirut, Libanon. Zuvor war er für die FES unter anderem als Leiter der Büros in Botswana und Madagaskar tätig.)

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