Im Vergleich zu der Vielzahl der seit 1945 erschienenen Veröffentlichungen über die nationalsozialistischen Verbrechen, gibt es zu den Verbrechen und der Bedeutung der NS-Justiz nur verschwindend wenige Publikationen. Sogar die wenigen einschlägigen Schriften verharren bei singulären Problemen wie Rechtspositivismus und der Exkulpation (Schuldunfähigkeit eines Täters) der Täter mit ihrer vermeintlichen Gesetzesgebundenheit. Zwar hat man sich auch mit den personellen Kontinuitäten und dem Skandal der fortgesetzten Karrieren der NS-Juristen befasst. Auch damit, wie fast alle Belasteten durch die Maschen der Entnazifizierung schlüpften. Auch wie sie aus der Entnazifizierung fast immer als „Entlastete“ hervorgingen. Insgesamt lässt dies aber das mangelnde Gerechtigkeitsgefühl der Gesellschaft und die Art erkennen, wie die Gesamtgesellschaft zu der Vergangenheitsaufarbeitung stand. Deshalb sind biografische Studien auch ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Gesamtgesellschaft einer Zeit. Hier kristallisiert sich oft auch die zeitübergreifende Mentalität von Juristen (überdurchschnittlich starkes Aufstiegsbewusstsein von Richtern, aber auch ein unter Juristen besonders verbreitetes Mainstreamdenken).
Dazu, wie der Lebensweg dieser wirkmächtigen Juristen im Einzelnen verlief und dazu, wie viele Opfer sie auf ihrem Gewissen hatten, auch dazu mit welcher Perfidie und Skrupellosigkeit vorgehen, gibt es nur wenige Lebensbeschreibungen.
In dem Persönlichkeitsprofil und den Charaktereigenschaften der biografierten Personen gibt es große Unterschiede. Dies gilt auch für die Antriebsmomente für ihre Mitwirkungen an Unrecht: Bei dem einen war es ihre ideologische Schlagseite, aus der sie aus Fanatismus und rassistischem Antisemitismus am Unrecht mitwirkten.
Typische Beispiele sind Kurt Bellmann und Alfons Bengsch – Leute vom Schlage eines Roland Freisler. Andere (ein herausragendes Beispiel ist Werner Hülle) agierten eher aus Opportunismus und Karrieresucht. Ein herausragendes Beispiel ist Werner Hülle. Dass die letzte Gruppe den Löwenanteil der Fälle bildete, gibt besonders zu denken, auch als Anstoß für eine Reform der Juristenausbildung.
Bei den von mir erzählten Tätergeschichten handelt es sich ausnahmslos um juristische Schreibtischtäter.
Juristische Schreibtischtäter sind Leute, die nicht mit eigener Hand mordeten, sondern an den Verbrechen mit Hilfe von Texten, zum Beispiel mit der Formulierung gesetzlicher Normen und Zweckbestimmung mitwirkten. Dies vor allem bei der raffinierten Umgehung von Gesetzesnormen. Beispiel: Oberstrichter Werner Hülle der maßgeblich an dem Barbarossa-Kriegsgerichtsbarkeitserlass und an dem „Nacht- und Nebel“-Verfahren mitgewirkt hat. Oder Heinrich Ebersberg, der dem blutrünstigen Reichsjustizminister Otto Thierack als persönlicher Referent damit zugearbeitet hat, dass er listenmäßig vorschlug, welche von der Gestapo aus den Strafanstalten herausgeholten Gefangenen der „Vernichtung durch Arbeit“ zugeführt werden sollte.
Die Arbeit von Schreibtischtätigkeit bestand oft aus der Durchstellung von oben nach unten, mit vielfach auch aus Berlin gekommenen Anweisungen. Damit waren sie wichtige Glieder in der von oben nach unten reichenden Befehlskette. Je höher sie dienstlich angesiedelt waren, umso schwerer wiegt ihre Schuld.
Juristische Schreibtischtäter konnten sich sogar zu Richtern in eigener Sache aufschwingen, und, bald zu einflussreichen Funktionen in Justizministerien und -kommissionen aufgestiegen, an einer Gesetzgebung mitwirken, die auf eine Amnestierung der Schreibtischtäter hinausliefen. Ein besonders interessantes Beispiel ist Eduard Dreher.
Die geringe Anschaulichkeit des Tuns und der Wirkung von Schreibtischtätern erklärt auch das weitgehende Desinteresse der Gedenkstätten und der anderen Institutionen der politischen Bildung an diesem Teil der Zeitgeschichtsforschung. Dies vor allem dann, wenn Historiker mit juristischen Denk- und Verwaltungsabläufen nicht vertraut sind. So ist es kein Wunder, dass sich in der Juristenausbildung durchweg in den letzten hundert Jahren nicht viel geändert hat.
Einfühlsam geschriebene Biografien juristischer Täter sind auch deshalb wichtig, weil erst sie das zunächst abstrakt erscheinende Handeln anschaulich machen: Die Normalbürger und leider sogar die Qualitätsmedien interessieren sich meist nur für die üblichen Morde, zum Beispiel Raubmord, Mord aus Gewinnsucht oder Auftragsmorde, auch Eifersuchtstaten, also Taten, wie sie alle paar Tage in der Boulevardpresse zu finden sind. Dass Morde, sogar Massenmorde ihren Ursprung an Schreibtischen nehmen können, übersteigt gemeinhin das Vorstellungsvermögen der meisten Bürger. Und doch sind die allermeisten und schwerwiegendsten Morde in den Jahren 1933 bis 1945 vom Schreibtisch vorgedachten Morde.
Gerade die Komplexität stellt an den Biografie-Schreiber besondere Anforderungen. Denn er muss die juristische Denkweise in spannende Erzählungen umwandeln.
Was die Wahl von Opferbiografien angeht, waren mir drei Namen besonders wichtig:
Erna Wazinski Das ist einer der ersten Fälle, die mich bei der dienstlichen Aufarbeitung der NS-Justiz an die Fehlbarkeit von Richtern herangeführt hat.
Moritz Klein Den Justizmord an Moritz Klein hatte Fritz Bauer als Braunschweiger Generalstaatsanwalt aufgegriffen, um (Jahre vor den Auschwitzprozessen) eine Grundsatzentscheidung darüber herbeizuführen, dass mörderische Juristen sich nicht immer auf die bloße Befolgung des geschriebenen Rechts zurückziehen dürfen.
Hermann Bode Der Fall ist nicht nur wegen dieses einzigartigen Widerstandskämpfers (vom ersten bis zum letzten Tag) wichtig, sondern auch wegen der Hartnäckigkeit, mit der die Justiz und Politik der Bundesrepublik viele Jahrzehnte vergehen ließen, bis es zur Rehabilitierung dieses und vieler andere „Kriegsverräter“ im Jahre 2009 kam.
Eine Biografie habe ich meinem Schulfreund Christian Schaper gewidmet. Dies nicht nur aus persönlicher Verbundenheit, sondern auch als Beispiel für eine dem rigorosen Erziehungsmodell der Nationalsozialisten verpflichtete Jugenderziehung.
Wer die Opfer- und Täterschicksale erfolgreich vermitteln will, muss das so erzählen, dass es bei den Lesern „ankommt“. Das wird jedem, der von der Sache etwas versteht, auch gelingen, wenn er von dem Schicksal innerlich ergriffen ist (bei Opfern von dem Mitgefühl und bei Tätern vom Zorn über die Perfidie des Tuns). Ich hoffe, dass mir das gelungen ist.





















