Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer

0
Dom Hildesheim (Foto: Kerstin Lindner)

Wilfried SteenAndacht zu oben genanntem Bild von Marc Chagall

.

In Wolfsburg läuft zurzeit die Ausstellung „Utopia. Recht auf Hoffnung.“  Gibt es ein Recht auf Hoffnung? Marc Chagall ist wie wenige Künstler in der Lage, Gefühle von Ungewissheit und Hoffnung in einem Bild zu vereinigen. Marc Chagalls Bild ‚Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer‘ aus dem Musée National Marc Chagall in Nizza bietet uns manche Assoziationen. Wir sehen einen breiten Fluss. Wir sehen ein Häusermeer zur Linken, Kirchen, ein vertrautes Paar, ein Boot. Der Fluss erinnert mich an den Rhein in Bonn. Was mir dabei einfällt: Dort habe ich ein paar Jahre gearbeitet und bin oft auf dem Uferweg entlang geradelt. Das strömende Wasser hatte etwas Beruhigendes, Zeitloses. Und ewig strömet der Rhein … Aber trotzdem: wir können die Zeit nicht festhalten. Nichts bleibt, alles wird sich wandeln. Über dem Fluss Chagalls schwebt eine alte Pendeluhr. Ein brauner Kasten, ein goldschimmerndes Pendel. Doch das Ziffernblatt ist leer. Warum? Wozu? Die Uhr aber schwebt einher gleichsam als Gondel am Bauch eines großen Fisches angebracht, ein Fisch mit Flügeln, bizarr, traumhaft, visionär, wie oft bei Chagall. Über seine Flügel zieht sich flammendes Rot, doch an seinem Kopf spielt Einer die Geige. Was ist der Sinn? Der Fluss strömt, die Uhr tickt, der Fisch schwebt. Über die Linie des Pendelschlags legt sich eine Gegenlinie, das Tönen der Geige verbindet sich mit der Vertrautheit eines liebenden Paares, Harmonie leichter Klänge, erfüllte Augenblicke inmitten böser Zeit. Chagall malte seine Bilder bei Mozartscher Musik.

Das Bild entstand 1939. Chagall erstarrt vor den aufbrechenden Verfolgungen seines Volkes im Zweiten Weltkrieg. Das Pendel steht dafür wie festgemacht. Die lähmenden, quälenden Ängste vor der Zukunft sind in diesem Bild zu lesen. Ängste vor drohendem weltgeschichtlichen Unheil sind auch nicht mehr so fern von uns. Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer. Aber das stimmt nicht ganz. Wir erkennen zwei Ufer. Aber vielleicht will Chagall sagen: Der Fluss Zeit hat eine unwiderstehliche Kraft, die uns forttreibt. Am Ufer zu sitzen wie die Liebenden ist ein wunderbarer Traum. Mitten in diesem Fluss unserer Zeit möchte ich den Apostel Paulus zu Wort kommen lassen. Seine Worte sprechen zu uns aus fremder Zeit, aus einer Zeit der Trübsal und Bedrängnisse, der Verfolgung und des Hungers in den kleinen christlichen Gemeinden. Damals waren sie Pioniere, Avantgarde einer neuen Zeit, beseelt vom Geist Gottes, dem Geist der Freiheit. Paulus schreibt: Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur wird uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus, unsrem Herrn, offenbare Wirklichkeit für alle Menschen geworden ist. Gottes Liebe währt weiter und wirkt tiefer als all die unbekannte Zukunft. Unentwegt ticken die Uhren in unserem Leben.

Das Wort von der unvergänglichen Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn, bleibt darin das große, ewige, unaufhebbare Ja, das Gott in der Menschwerdung seines Sohnes gesprochen hat. Bei ihm sind wir nicht vergessen, bei ihm sind wir geliebt auf ewig.
Aber diese Wahrheit ist zu mächtig, als dass wir sie begreifen können. Wir müssen uns Zeit nehmen, um diese Wirklichkeit zu erfassen und zu erfahren. Das braucht unser ganzes Leben. Denkt an den Fluss unserer Jahre. Bleiben die Kränkungen oder sind die positiven Erfahrungen stärker? Haben wir unsere Arbeit in der Kirche als Sisyphusarbeit vor Augen? Was ist mit der sich verdunkelnden weltpolitischen Lage?  Was mit unserer persönlichen Sorge in Krankheit, die Sorge um Familienmitglieder, um Freunde? Wie viele unserer Wünsche sind doch nicht in Erfüllung gegangen!

Ein fliegender Fisch ist im Zentrum des Bildes. Manche Interpreten von Chagall deuten den Fisch als Hinweis, dass Chagalls Vater in einer Fischfabrik gearbeitet habe. Das ist doch oberflächlich. Der Fisch ist Symbol. Es weiß von der Kraft der Hoffnung mitten in der Not. Der Fisch mit Flügeln kann zum Bild für uns persönlich werden. Tu das, wovon du glaubtest, du könnest es gar nicht. Flieg. Und du wirst stärker sein als all das, was dich niederdrückt und deine Tage sauer werden lässt. 
Wir können uns auch mit dem kleinen Boot vergleichen, wie es Chagall in sein Bild hingemalt hat. Wir schwimmen in der Zeit wie in einem Fluss. Die Geige, vom kleinen Finger gespielt. Ein Instrument, beherrscht mit Leichtigkeit, nicht durch Disziplin und hartes Üben. Gab es das in der vergangenen Zeit? Da gab es eine gute Nachricht. Da ist etwas gelungen und ich habe gar nicht gemerkt, dass ich etwas dafür tun musste.
Es gibt Überraschendes – wie eine fröhliche Melodie. Dafür sollten wir uns öffnen und uns Zeit nehmen, Zeit zum Durchatmen: Die Uhr ohne Zeiger, der Fisch mit Flügeln, die Geige, gespielt mit dem kleinen Finger. Sie erheben sich über den Fluss der Zeit, über sein Strömen, über das, was immer schon da war und immer da sein wird. Und dann ist da für uns dieses Wort des Paulus in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache:

Ich verlasse mich darauf: Weder Tod noch Leben, weder himmlische noch staatliche Mächte, weder die gegenwärtige Zeit noch das, was auf uns zukommt, weder Gewalten der Höhe noch Gewalten der Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf können uns von der Liebe Gottes trennen, die im Messias Jesus lebendig ist, dem wir gehören.

Sein Geist wird nicht ferne von uns sein. Das ist eine großartige Zusage. Nehmt dieses Wort des Paulus als Ermutigung mit, als Siegel für eine Hoffnung, die nicht aufgibt.
Nehmt dieses Bild vom Fisch mit, der fliegen kann, von der Geige mit der leichten Melodie, von der Uhr ohne Zeiger.
Wir schwimmen im Fluss der Zeit. Aber wir sind gewiss, dass einst ein Ufer auf uns wartet, ein Ankommen dort, wo einer uns in die ewigen Arme seiner Liebe einschließt.

Wilfried Steen

Möchten Sie den Artikel kommentieren

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.